Juraj Jascur

Der Zaubertrank

„Flaaaaaviussssss!“, ertönte es in der Dunkelheit.

Flavius riss erschrocken seine Augen auf. Er schlief tief und fest. Er konnte sich an keinen Traum erinnern. Doch eine Stimme aus der Ferne, die so unwirklich wie ein Märchen, so unheimlich dämonisch und doch so hoffnungsvoll klang, zog ihn in seinen Bann.

„Flavius, steh auf! Lasst uns in den Wald gehen, bevor die Sonne aufgeht!“.

Es war die Stimme von Holger. Seine mächtige Gestalt beugte sich über ihn, so dass er einem Wesen aus einen seiner Alpträume ähnelte. In seinem Fell wirkte er wie eine Bestie, die jeden Moment zubeißen konnte.

„Steh auf!“, wiederholte Holger.

Flavius richtete sich ruckartig auf und fühlte sich immer noch in einem seiner vielen Träume. Voller Angst starrte er auf diese Gestalt, welche sich nun aufrichtete. Nun erst erkannte er, dass es sich um Holger handelte.

Holger führte ihn aus der warmen Höhle hinaus in die Dunkelheit. Der riesige Mond schimmerte unheimlich und tauchte die Pflanzen in ein glitzerndes Meer von Licht. Er fürchtete sich und war zugleich voller Neugierde. Welchen Zauber würde Holger ihm nun vorführen? Was meinte Holger gestern mit Training? Sollte er nicht zu Meister Fong gehen, um zu trainieren?

„Beobachte das Tier!“.

Holgers Flüstern jagte ihm Angst ein. Angestrengt starrte er in die Dunkelheit, bis er vor Schreck zusammenzuckte. Da! Er konnte es entdecken. Eine riesige dunkle Gestalt kratzte sich am Baum und gab dabei brummende Geräusche von sich.

„Ein Kodiakbär! Er könnte mit einem Prankenhieb deinen Schädel zertrümmern! Er ist so stark und so schnell, dass es kein Entkommen gibt, wenn er dich jagt. Dank seines ausgezeichneten Geruchssinnes riecht er dich Meilenweit. Wenn er dich einmal entdeckt hat, versuche es erst gar nicht, dich vor ihm zu verstecken! Denn er findet dich immer!“.

Flavius war starr vor Schreck.

„Aber keine Angst! Er würde es nicht wagen, in meine Richtung zu gehen! Ich habe ihn gross gezogen und vor Jahren der Wildnis überlassen.“, fügte Holger hinzu.

„Jetzt lauf mein Junge und such die Pflanzen, welche im Mondschein bläulich schimmern! Aber beeile dich, denn der Tag bricht bald an!“.

Flavius verstand den Sinn seiner Worte nicht. Er wagte jedoch nicht zu fragen. Er rannte einfach drauflos, ohne zu wissen wohin! Er rannte und rannte und war voller Angst! War das ein Test? Wollte ihn Holger testen? Würde er diese Aufgabe meistern? Wenn nicht, was dann?

Plötzlich hielt Flavius erschöpft an. Sein Magen knurrte. Seine Kehle fühlte sich trocken an. Seine Zunge klebte unangenehm am Gaumen. Er hatte Durst, Hunger, Angst und er war müde, furchtbar müde. Erschöpft liess er sich auf dem mit Laub bedeckten Boden fallen.

Sollen sie doch alle kommen, die Monster, Dämonen, Bestien! Ohne es zu wollen, starrte er auf dem Mond. Sie glich einer Scheibe, die sich drehte. Je länger er auf diese gelbe Scheibe starrte, desto grösser erschien sie ihm. Er hatte das Gefühl, dass er sich dem Mond nähere.

Da! Er konnte es erkennen. Ein bläulicher Strahl erstreckte sich vom Mond bis nach unten. Wo unten? Flavius richtete sich plötzlich auf. Er fühlte sich von fremder Macht gelenkt. War es die Macht des Mondes, die ihn antrieb? Sein Körper schien sich von ganz alleine zu erheben. Es war, als ob Geisterhände ihn erheben und ihn zu dem bläulichen Strahl tragen würden. Er schien über den Boden zu gleiten, als er sich diesem Strahl näherte. Er zog ihn magisch an.

Er tauchte in das Meer des blauen Lichtes ein und war erfüllt von Güte, Wissen und Zuversicht. Als ob es das natürlichste auf der Welt wäre, richtete er seinen Blick nach unten und entdeckte unscheinbare weisse Blumen, die so winzig waren, dass man sie normalerweise übersah. Doch er wusste, dass es sich um die Pflanze handelte, weswegen ihn Holger geschickt hatte.

Flavius rupfte sich gleich einen ganzen Strauss dieser zierlichen Blumen. Er musste vorsichtig sein, dass er sie mit seinen Finger nicht zerdrückte. Voller Stolz marschierte er in die Höhle, wo Holger bereits auf ihn wartete. Eine komplizierte Apparatur stand bereits bereit für das folgende Experiment. Instrumente, welche er noch niemals vorher zu Gesicht bekommen hatte, lagen auf dem mächtigen Mahagonitisch.

Holger gab keinen Ton von sich. Er fixierte ihn bloss mit seinen grauen, leuchtenden Augen. Flavius schwieg ebenfalls. Er wusste auf Anhieb, was Holger von ihm wollte. Er stellte die Pflanzen auf den Tisch, wo riesige uralte Bücher auf dem Tisch lagen.

„Bereite einen Zaubertrank zu, um mit dem Bären zu kämpfen!“.

Flavius schluckte leer. Die Anweisung war klar und deutlich. Er sollte einen Zaubertrank herstellen, der ihm übermenschliche Kräfte verleinen würde. Holger zog sich zurück, während Flavius zu studieren begann.

Obwohl er es gewohnt war, komplizierte Bücher zu lesen, bereitete ihm der Lernstoff, den ihm Holger zu lesen gegeben hatte, viel Mühe. Es vergingen Tage und Wochen. Flavius wusste bereits sehr viel über die Pflanzenkunde und Biologie. Doch er wagte es noch nicht, sich an die komplizierten Apparaturen heranzuwagen.

Die Bücher, welche auf dem Tisch lagen, reichten nicht aus.

„Darf ich mir noch andere Bücher aus der Bibliothek holen?“, fragte er eines Tages schüchtern.

Holger nickte und lächelte sanft. Es waren bereits vier Wochen vergangen. Flavius Eifer, heraus zu finden, wie man einen Zaubertrank herstellte, wuchs von Tag zu Tag. Damit er nicht abgelenkt war, sorgte Holger dafür, dass er regelmässig zu Essen bekam. Er zwang ihn auch regelmässig seinen Körper zu trainieren. Denn ohne die strengen Anweisungen seines Lehrers, Holger, wäre Flavius gestorben. Seine Muskeln wären geschrumpft und er wäre elendig verhungert.

Holger schimpfte niemals mit ihm. Jeden Tag wünschte er ihm guten Morgen und gute Nacht. Wenn Flavius Fragen hatte, beantwortete er sie ihm geduldig. Es folgten viele Tage, Wochen und Monate…

…Nach vierundzwanzig Monate hielt Flavius ein kleines Fläschchen in der Hand. Sein Herz hämmerte wie wild vor Aufregung.

„Du hast es geschafft, mein Junge!“, flüsterte Holger ihm zu.

„Trink mein Junge und zeige, welche Kraft in dir steckt! Es ist nicht irgendeine Kraft! Es ist eine göttliche Kraft, die uns allen innewohnt! Sie zu benutzen, fällt den meisten sehr schwer!“.

Holgers Flüstern klang viel versprechend.

Flavius hatte es geschafft. Er hatte Tag und Nacht gearbeitet. Er hatte sich mit Mechanik, Alchemie, Biologie, Mathematik und noch mit vielem mehr befasst. Zum Glück beherrschte er die lateinische Sprache, welche er sich vor vielen Jahren angeeignet hatte. Denn die meisten Bücher von Holger waren auf lateinisch geschrieben.

Ganz nebenbei hatte er auch Griechisch gelernt. Denn das Rezept des Zaubertranks war auf Griechisch geschrieben.

Flavius zitterte vor Aufregung, als er die Flasche an seinen Lippen legte, um das göttliche Lebenselixier zu trinken. Er schloss dabei die Augen, weil er glaubte, dass die Wirkung des Zaubertrankes auf diese Weise stärker wirkte. Doch als er das Fläschchen leer getrunken hatte, spürte er nichts Außergewöhnliches in seinem Körper.

„Und nun lauf in den Wald und suche den Bären! Fordere das Tier heraus! Kämpfe mit ihm!“, schrie Holger mit lauter Stimme, so dass Flavius das Gefühl hatte, sich seine Ohren zu halten zu müssen.

Er sprang hinaus. Was er fühlte war nicht Kraft und Zuversicht, sondern Angst und Scham. Er fühlte sich wieder, wie der kleine Junge, über den alle nur gelacht und den alle übers Ohr gehauen hatten. Doch er rannte weiter, weil er wusste, dass es kein Zurück mehr gab.

Er rannte einfach weiter und weiter und weiter. Nach einiger Weile stellte er fest, dass er noch nicht müde war. Er rannte weiter und weiter und stellte plötzlich mit Erstaunen fest, dass er sich statt müder immer stärker fühlte. Je weiter er in die Richtung zum Bären raste, desto stärker fühlte er sich. Er konnte es fühlen! Oh ja! Es war absolut göttlich, wie das Leben durch seinen Körper floss. Er atmete ein und aus, ein und aus. Leben ein, Tod aus, Leben ein, Tod aus!

Flavius begriff endlich das Prinzip des Sterbens. Er konnte es spüren. Jeder Augenblick war für ihn Göttlich. Jeder Atemzug, den er machte, war ein Akt der Schöpfung und des Untergangs. Zellen wurden erschaffen, Zellen lösten sich auf.

Der Kampf

Plötzlich erblickte er das Tier. Es war der Kodiakbär, der wie aus dem Nichts aufgetaucht war. Er musste bestimmt drei Meter hoch sein, als er sich in seiner ganzen Grösse aufrichtete. Sein Gebrüll war beängstigend. Jeder normale Mensch wäre bei seinem Anblick vor Angst gestorben. Doch Flavius näherte sich schweigend diesem Zähnefletschenden Tier.

Statt sich zu fürchten, fühlte er die lebendige Kraft dieses Tieres. Ehe er es sich versah, wurde er von diesem gewaltigen Biest umarmt. Statt in Panik zu geraten, liess er sich auf einen wilden Tanz mit diesem Ungetüm ein. Zaubertrank hin oder her, er hatte, was die körperliche Kraft anbelangte, keine Chance.

Der Bär drückte immer fester zusammen. Flavius versuchte es gar nicht, aus dieser Umklammerung zu entkommen. Trotzdem fühlte er sich zuversichtlich. Er würde nicht sterben. Nein! Im Gegenteil, seine Kraft wuchs, je länger er mit dem Bären kämpfte. Es war nicht der Bär, vor dem er sich fürchtete. Es waren nicht seine riesigen Zähne, welche ihn mit Leichtigkeit in Stücke zu reissen drohten und es waren auch nicht seine Riesepranken, welche seine Knochen wie Zündhölzer brechen konnten, die ihm Angst einjagten, nein! Er fürchtete sich nur vor sich selbst.

Während Sekunden, Minuten und Stunden zu einem Augenblick verschmolzen, rang er mit sich selbst und seiner Angst. Während er mit seinem Gesicht in das struppige Fell des Kodiakbäres eintauchte, erinnerte er sich an seine Kindheit, die geprägt war von Angst, Scham, Leid, Wut und Enttäuschungen.

Obwohl er sich bei allem, was er getan hatte, immer Mühe gegeben hatte, war er niemals von irgendjemand akzeptiert worden. Die Kundschaft hatte ihn nur ausgenutzt. Die Kinder auf den Strassen hatten ihn ausgelacht. Für seinen Vater war er bloss eine Enttäuschung gewesen.

Eigentlich müssten seine Rippen längstens gebrochen sein. Doch das war nicht der Fall. Er fühlte sich stärker denn je. Er atmete tief ein und aus, ein und aus…

…Eine unglaubliche Müdigkeit überkam Flavius. Er liess sich einfach fallen. Der Bär war fort. Er glaubte in ein bodenloses Nichts zu fallen. Doch er schlief nicht ein. Alles um ihn herum drehte sich und wackelte. Er war wie betrunken. Er verzog sein Gesicht zu einer lustigen Fratze. Er begann hemmungslos zu kichern. Er kicherte und kicherte, während er die ganze Zeit auf den Mond starrte.

Plötzlich ging sein Kichern in ein Weinen über. Seine Augen füllten sich mit Tränen, der dumpfe Druck in seiner Brust wurde stärker, bis er zu schluchzen begann. Er weinte über den grossen Verlust seiner Kindheit. Er weinte, weil er niemals hatte ein Kind sein dürfen. Man hatte ihm niemals die Beachtung geschenkt, die er verdient hätte. Doch er weinte auch aus Freude, weil er es endlich geschafft hatte, seine Angst zu besiegen. Er hatte es geschafft. Er besiegte seine Angst im Kampf mit dem Bären.

Erschöpft ging er in die Höhle zurück, wo Holger bereits mit einem kulinarischen Gericht auf ihn wartete. Die beiden Männer umarmten sich und weinten zusammen. Sie setzten sich gemeinsam am Tisch, um zu essen, zu trinken und über die Zukunft zu sprechen.

Das sollte das letzte gemeinsame Mahl sein. Denn Flavius war nun soweit, um nach China zu reisen. Denn er hatte die Angst besiegt, die ihn ein Leben lang verfolgt hatte. Insgeheim glaubte er, dass der Bär gar kein richtiger Bär war, sondern ein Geist, ein guter Geist, der ihm auf den rechten Weg gebracht hatte.

  
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