Juraj Jascur

Das Leben ist ein Geben und Nehmen

Statt mich weiterhin über Angélique, Branko, Pierre und Xaver Gedanken zu machen, verlasse ich das prächtige Gebäude, mitsamt den emsigen Mitarbeitern, die ich kaum zu Gesicht bekommen habe. Ich verabschiede mich von Petrus und dem Butler, der mich mit seiner unerschütterlichen Haltung beeindruckt und zugleich verwirrt. Ausser meiner Kleidung habe ich nichts dabei. Meine Plastikkarte, die ich jederzeit ersetzen kann, habe ich in meiner Hosentasche verstaut. Mehr brauche ich nicht.
Sie ermöglicht mir freien Zugang zu den grössten Reichtümern dieser Erde. Mehr noch, dank ihr, bin ich frei, unabhängig und zufrieden. Das wird mir zum ersten Mal bewusst, als ich nach vielen Wochen meinen Fuss wieder auf die Strasse Roms setze. Für mich scheint eine halbe Ewigkeit vergangen zu sein. Die Zeit, wo ich ahnungslos Rom betrete, erscheint mir so unwirklich. Umso wirklicher erscheint mir jetzt das Leben hier und jetzt. Noch in derselben Stunde beschließe ich, diese Stadt zu verlassen. Ich weiss noch nicht, wohin ich will. Ich besteige irgendeinen Zug.
Ich betrete irgendein Abteil. Ich bin nicht allein hier. Alle machen auf mich einen entspannten Eindruck. Ich fühle mich durch sie keineswegs irritiert. Ich nicke ihnen höflich zu und setze mich auf einen freien Platz. Ich kann mich noch gut an mein altes Leben erinnern, wo ich mich wie Dreck fühle.
Derselbe Antonio hätte sich in derselben Situation noch vor ein paar Monaten ganz anders gefühlt. Vermutlich hätte ich die anderen durch mein seltsames Verhalten, die einzig und allein von meiner Angst hergerührt wäre, auf mich aufmerksam gemacht. Doch jetzt bin ich ein neuer Mensch.
Ich bin ein Schlaraffe! Und das Tolle daran ist, dass ich mich nicht einmal zu verstellen oder gar zu verstecken brauche. Plötzlich betritt ein Mann in Uniform unser Abteil. Er ist so um die vierzig. Er ist hager, klein und sein Gesicht ist voller rötlicher Bartstoppeln. Seine wilden Locken lugen aus seiner Mütze heraus. Voller Selbstbewusstsein blicke ich ihn an und schenke ihm ein freundliches Lächeln. Wie auf Befehl schreitet er sofort zu mir. Die anderen Gäste beachten mich kaum.
„Guten Tag Senior, die Fahrkarte bitte!“.
Ich habe keine Fahrkarte. Ich lächle ihn freundlich an und strecke ihm meine Plastikkarte entgegen. Der Kontrolleur macht ein verdutztes Gesicht. Den anderen ist seine veränderte Mimik nicht entgangen. Ich betrachte ihn in aller Ruhe. Nichts kann mich aus der Fassung bringen. Selbst wenn dieser Mann mir mitgeteilt hätte, dass ich auf der Stelle den Zug zu verlassen hätte oder er die Polizei holen würde, hätte mich das nicht im Geringsten berührt. Plötzlich flackern seine Augen auf.
„D-d-das ist in Ordnung! Das geht auch!“.
Das hagere Männlein starrt noch eine Weile auf meine Karte, so als ob er die Eintrittskarte ins Paradies in den Händen hält. Endlich gibt er mir die Karte zurück. Er wirkt immer noch verstört, als er die anderen um die Fahrkarte bittet. Er wirft noch einen letzten verzweifelten Blick auf mich, bevor er das Abteil verlässt. Diese Augen!
…während die anderen Gäste sich immer noch über sein komisches Verhalten wundern, muss ich immer an seinen hungrigen und verzweifelten Blick denken.
„Was ist denn an Ihrer Karte so besonders, dass er sich so aufführt, als ob ihm der Teufel persönlich begegnet wäre?“.
Ich blicke in das Gesicht einer alten Italienerin. Ihre raue Stimme durchdringt den Raum. Für einen Moment lang fühle ich mich durch sie eingeschüchtert. Ich senke meinen Blick und erkläre ihr einfach, was es mit dieser Karte auf sich hat. In dem Augenblick, als ich das Wort Schlaraffe ausspreche, muss ich wieder an das traurige Gesicht dieses Kontrolleurs denken.
Da geschieht es wieder mit mir. Es ist die Gewissheit über die Wahrheit, die wie ein warmer Strahl meinen Körper durchströmt. Ruckartig stehe ich auf.
„Entschuldigt mich bitte für einen Augenblick!“.
Die alte Frau starrt mich mit ihrem durchdringenden Blick an. Ich verlasse das Abteil. Von weitem erkenne ich die hagere Gestalt, die in der viel zu grossen Uniform ertrinkt.
„Senior!“.
Ich höre eine klare, feste und männliche Stimme. Erst als sich die mickrige Gestalt nach mir umdreht, realisiere ich, dass diese Stimme von mir stammt. Mit offenem Mund starrt er mich fragend an. Ich kann immer noch den Hunger und die Trauer in seinen Augen erkennen. Langsam gehe ich auf ihn zu.
„Tut mir leid, wenn ich Sie störe, aber mir lässt diese Ungewissheit einfach keine Ruhe!“.
Der verstörte Mann steht immer noch wie angewurzelt da. Ich stehe nun unmittelbar vor ihm. Ich blicke in seine himmelblauen Augen. Er kommt mir wie ein geschlagener Hund vor.
„Mein Name ist Antonio, Antonio del Turcchi! Vor einigen Wochen wusste ich nicht einmal, dass es so eine Karte gibt! Ich sehe doch in ihren Augen, dass sie mehr wissen!“.
„Sind Sie ein Schlaraffe?“.
Seine hohe Stimme klingt so hilflos und verzweifelt. Ich lege meine Hand auf seine Schulter. Der Mann bricht vor meinen Augen innerlich zusammen. Seine Gesichtszüge entgleiten völlig. Sein ganzes Leben scheint wie ein Kartenhaus vor mir zusammen zu fallen. Mit weinerlicher Stimme verkündet er mir sein Leid. Ich versuche ihm wenigstens dazu zu überreden, dass er bis Berlin durchhält und seinen Posten nicht aufgibt.
„Ich will nicht mehr! Alle hacken nur auf mir rum! Meine Frau hat mich sitzen lassen…von meinem Sohn weiss ich auch nichts…Es ist mir wurscht, alles scheißegal, Hauptsache, ich bin frei!“.
Das Wort“ frei“ ist wohl das Stichwort. Wie auf Abruf beginnt sich der hagere Mann die Uniform auszuziehen. Jetzt bin ich derjenige, der verstört da steht. Vor mir steht ein 40ig Jähriger, der nur aus Haut und Knochen besteht. Sein Unterhemd und seine Unterhose sind weiss, genau so weiss, wie seine Beine, die mich an Stelzen erinnern. Fieberhaft suche ich nach einer Lösung.
„Pass auf! Der Zug ist gross, also gehen wir in irgendeines dieser vielen Abteile. Zieh dir wenigstens die Hose wieder an.“.
Mit meiner bestimmten Art bringe ich ihn dazu, dass er kooperiert. Er folgt mir wie ein Schosshündchen. Per Zufall entdecken wir ein Abteil, das noch von niemand besetzt ist. Kaum haben wir uns hingesetzt, verändert sich sein Gesichtsausdruck. Sein Blick wirkt auf einmal so verklärt. Man hat fast den Eindruck, dass er sich endlich in Sicherheit wiegt. Er scheint sich ganz auf mich zu verlassen, ohne sich die geringsten Sorgen zu machen.
„Also, folgendes! Wir machen einfach gar nichts! Wenn ein Kontrolleur kommt, der dich sicherlich kennen wird, dessen bin ich mir sicher, dann sagst du einfach, dass du Pause machst.“.
Doch der Mann starrt mich nur seelenruhig an und streckt sich auf einmal, als ob er soeben aufgestanden wäre.
„Ich heisse Felix!“.
Plötzlich kichert er ganz blöde. Ich kann es immer noch nicht fassen, dass derselbe Mensch, der mich noch vor wenigen Minuten an die Leiden Christi erinnert hat, unbekümmert da sitzt.
„Dann geht es dir also wieder besser. Also ich will dir helfen, indem ich dir eine Adresse aufschreibe.“.
Die Schlaraffenorganisation hat unzählige von Kontaktstellen errichtet. Das riesige Schloss in Rom ist nur eine von vielen. Felix scheint nicht mehr auf mich den Eindruck zu machen, dass er noch an meine Worte zweifelt. Ich erinnere mich noch genau an meine Zweifel. Petrus hat es nicht auf Anhieb geschafft, mich vom Schlaraffendasein zu überzeugen.
„Du bist nicht der erste, der davon spricht! Ich habe immer gedacht, dass das ein Witz ist. Aber du bist der erste, der mir hinterher gelaufen ist.“.
Er schenkt mir ein dankbares Lächeln…
Seit Tagen reise ich mit dem Zug, schlafe sogar im Zug oder in Hotels. Dabei konzentriere ich mich auf kein bestimmtes Ziel, sondern lasse mich einfach von meinem inneren Impuls treiben. Nur ganz selten meldet sich bei mir mein zweifelndes an die materielle Welt gekettetes anderes Ich, um mich daran zu erinnern, dass nichts auf der Welt geschenkt ist.
Doch ein Blick auf mein neues Schlaraffenkonto genügt, um mich vom Gegenteil zu überzeugen. Ich verfüge über genügend finanzielle Mittel, um für den Rest meiner Tage sorgen zu können.
Bereits nach zwei Wochen habe ich mich so sehr an das Schlaraffendasein gewöhnt, dass es für mich zur Selbstverständlichkeit gehört, die Sonnenseiten des Lebens zu geniessen. Bereits am Morgen freue ich mich auf den neuen Tag. Voller Tatendrang stehe ich auf, um mich ins Leben zu stürzen. Dabei frage ich mich nicht, was richtig und falsch ist.
Mit meiner Plastikkarte bin ich überall willkommen. Statt unnötig Energie mit dem Planen meines Alltages zu verschwenden, setze ich einfach nur einen Fuss vor dem anderen. Dabei begegnen mir stets nur angenehme Dinge.
Ich kann nichts falsch machen, solange ich mich von meiner inneren Stimme führen lasse. Entweder beginne ich den Tag mit einem ausgiebigen Frühstück oder mit einer körperlichen Ertüchtigung oder geniesse den Sonnenaufgang oder alles zusammen.
Am meisten Freude bereitet es mir, mit den Menschen um mich herum in Kontakt zu treten. Statt mich einer wilden Euphorie hinzugeben, und jedem Dahergelaufenen von einem Dasein als Schlaraffe überzeugen zu wollen, ziehe ich es vor, sparsam mit meiner Energie umzugehen. Denn wenn ich etwas in dieser kurzen Zeit begriffen habe, dann ist es das Prinzip der Sparsamkeit in allen Bereichen meiner Aktivitäten.
Meines Erachtens besteht das Geheimnis des Lebens im maßvollen Gebrauch unserer Energie. Egal, ob es sich um Konsum, Bildung, Sport, soziale Kontakte oder um das Prinzip des Gebens und Nehmens handelt, man sollte sich stets vor Augen halten, dass die Übertreibung schadet…
Als ich nämlich in die dankbaren und glücklichen Augen von Felix blicke, erkenne ich mit erstaunlicher Klarheit, worum es im Leben wirklich geht. Ich erhebe mich plötzlich und lege ganz sanft meine Hand auf dessen Schultern. Ich verabschiede mich von ihm, worauf er mir ein dankbares Lächeln schenkt. Ich verlasse das Abteil, um mich an einem Ort zurück zu ziehen, weil ich das starke Bedürfnis verspürt alleine zu sein.
Ich muss meine Gedanken in meinem Kopf ordnen. Zuviel ist geschehen, zu viele Informationen haben sich in all den Jahren in meinem Kopf aufgetürmt, als dass ich mich einfach so in mein neues Leben hätte hineinstürzen können, ohne mich zumindest für ein paar Stunden geistig gesammelt zu haben…
Was aus Felix geworden ist, interessiert mich sehr. Doch ich zwinge mich dazu, keinen weiteren Gedanken über ihn oder weitere Personen, die mir in meinem vergangenen Leben begegnet sind, zu verschwenden. Ich denke, dass das die Art von Disziplin ist, die einen würdevollen Schlaraffen ausmacht.
Ein Schlaraffe sollte in ewiger Dankbarkeit leben und jeden Moment seines Daseins auskosten, so als ob es sich um seinen letzten Tag handle.
Ich bin davon überzeugt, dass mir noch viele Menschen begegnen werden. Ich werde dabei die Gelegenheit nutzen, geistig zu wachsen, indem ich meiner inneren Stimme gehorche und das Prinzip des Gebens und Nehmens vervollkommne. Nur auf diese Weise werde ich mich meiner Rolle als Schlaraffe würdig erweise.
Doch ich muss mir eingestehen, dass mir Maurizio nicht aus dem Kopf geht. Er ist der Grund, dass ich mich von meiner Vergangenheit nicht ganz frei machen kann. Egal, wo ich mich gerade aufhalte, in welchem Zug ich sitze, mit welchen Menschen ich verkehre, das Bild von diesem schönen Mann begleitet mich wie ein dunkler Schatten…

  
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