Juraj Jascur

Das Jascursyndrom

Medizinische Begriffe lassen sich nicht in jedem Fall logisch herleiten. Manchmal finden sie ihren Ursprung in der Gestalt einer historischen Persönlichkeit, die eine wissenschaftliche Endeckung machte.
Hans Asperger, ein bedeutender Kinderarzt und Heilpädagoge des zwanzigsten Jahrhunderts, umschrieb bestimmte Fälle von Menschen, deren Krankheitsbilder später unter dem Begriff Aspergersyndrom zusammengefasst wurden. Leo Kanner, ein austro-amerikanischer Kinder- und Jugendpsychiater entdeckte als erster den frühkindlichen Autismus, den man deshalb heute als das Kannersyndrom bezeichnet.
Autismus lässt sich aus dem Griechischen ableiten und bedeutet «selbst». Hier finden wir eine logische Beziehung zwischen Namensgebung und Charakteristika der psychischen Störung.
Eugen Bleuler, ein anerkannter Schweizer Psychiater des zwanzigsten Jahrhunderts spezifizierte den Autismus als Unterform der Schizophrenie. Sigmund Freud, österreichischer Neurologe, Tiefenpsychologe, Kulturtheoretiker und Religionskritiker, verwendete für Menschen mit autistischer Störung den Begriff Narzissmus, was Selbstverliebtheit bedeutet. Hans Asperger und Leo Kanner anerkannten die autistische Störung als eigenständiges Krankheitsbild an.
Was diese anerkannten Mediziner und Wissenschaftler der damaligen Zeit alle verband, war ihr Mut in die seelische Welt eines Menschen vorzudringen. Bislang hatte man das Denken, Fühlen und Handeln stets auf rein biologischer Ebene zu erklären versucht. Messungen hatten jedoch gezeigt, dass sie einem nicht einmal ansatzweise den Einblick in die menschliche Psyche vermittelt hatten. Bewusst distanzierten sich diese Männer, Leo Kanner, Hans Asperger, Eugen Bleuler und Sigmund Freud von herkömmlichen Verfahrenstechniken, um den menschlichen Geist auf neuartige Weise zu ergründen. Statt mit ihren Patienten weiterhin nur wie mit Versuchskaninchen zu verfahren, sie unzähligen von Tests zu unterziehen und sie weiterhin nur wie biologische Hüllen zu behandeln, wagten sie es sich in ihre Welt zu begeben. Sie kommunizierten mit ihnen, gingen auf sie ein und entwickelten eine Beziehung zu ihnen.
Affektstörung, krankhafte Selbstverliebtheit, Phobie und viele weitere Fachbegriffe stellten den Versuch dar, Symptome menschlichen Verhaltens zu erkennen, zusammenzufassen und zu klassifizieren, ohne sich dabei sklavisch auf neurologisch-empirische Werte stützen zu müssen. Sie waren ihrer Zeit weit voraus. Die Technik hinkte noch weit hinterher. Die Einblicke in das menschliche Gehirn waren sehr begrenzt. Trotzdem wagten sie es Aussagen über die Funktionsweise des menschlichen Geistes zu machen, ohne dafür einen sichtbaren Beweis in der neuronalen Vernetzung zu erhalten. Ihre Überlegungen bewegten sich auf neuem Terrain, das erst im Begriffe war, erforscht zu werden. Selbst heute fehlen uns noch die technischen Mittel, um einen eindeutigen Beweis für unsere Gedanken oder Emotionen zu erhalten.
Diese Wissenschaftler stiessen bei ihren Entdeckungen auf viele Hindernisse. Nicht alle zollten ihnen den Respekt, den sie verdienten. Sigmund Freud wurde sogar als Quacksalber bezeichnet. Hans Aspergers Arbeiten erhielten lange Zeit fast keine Beachtung, bis man dann in den Achtzigern seine wissenschaftlichen Werke vom Deutschen ins Englische übersetzte. Alle schafften es sich in der Welt der Wissenschaft zu etablieren. Ihre Methoden werden noch heute angewandt, wenn auch in modifizierter Form.
Meiner Meinung nach genügt das jedoch nicht mehr, weil man sich zu sehr auf ihre Aussagen versteift. Man versucht diesen Medizinern, Wissenschaftlern und Therapeuten dadurch gerecht zu werden, dass man ihre empirischen Daten auf unser heutiges Denkschema überträgt. Affektstörungen, soziale Interaktionsstörung, gesteigerte Ichbezogenheit und verzerrte Wahrnehmung sind nur einige Beispiele, die Auffälligkeiten im menschlichen Verhalten beschreiben. Sie in alte Denkmodelle unterzubringen mag zwar den Überblick über die verschiedenen Gruppen von medizinischen Geisteserkrankungen zu vereinfachen, birgt jedoch die Gefahr in sich, dass wir dadurch mit unseren Erklärungen an die Wahrheit vorbei schiessen. Diese Männer lebten in einer anderen Zeit, unterlagen ganz anderen Prägungen und gewannen ihre Erkenntnisse unter ganz anderen Voraussetzungen.
Wir leben heute, nicht damals vor hundert Jahren. Wir sollten auf das, was diese Wissenschaftler sich erarbeiteten, aufbauen, aber uns nicht sklavisch darauf stützen. Es wird Zeit, dass wir unsere eigenen Erkenntnisse gewinnen und endlich aufhören alte wissenschaftliche Werte zu praktizieren. Wir sind zwar unglaublich stark darin, neue technische Möglichkeiten zu kreieren, aber unsere Gedankenwelt verarmt dabei immer mehr. Statt neue Ideen zu fabrizieren, schöpfen wir unser Wissen immer noch auf veraltete Aussagen, Erkenntnisse und Lösungen.
Ich bin weder Mediziner, Psychologe, noch Heilpädagoge. Trotzdem nehme ich mir die Freiheit heraus, eigene Gedanken über den menschlichen Geist zu bilden. Denn schliesslich lebe ich seit meiner Geburt mit meinem Gehirn, das mich täglich aufs Neue Anlass zur Sorge bereitet. Ängste, flüchtige Gedanken oder Fehlinterpretationen sind nur einige von vielen Beispielen, warum es sich lohnt, bei sich selbst zu forschen, statt nur irgendwelche medizinische Fachbücher zu studieren. Statt nur über andere nachzudenken, stelle ich mich als Objekt meiner wissenschaftlichen Betrachtungen in den Vordergrund. Denn nur bei mir selbst finde ich den Schlüssel, der mir das Tor zum Wissen öffnet. Das sollten alle tun. Oberflächliche Schlüsse über die anderen zu ziehen reicht nicht aus.
Dank meiner vieljährigen Erfahrungen mit mir selbst hat sich in meinem Kopf ein Bild über mein Gehirn heraus kristallisiert, das ich sehr schwer in Worte zu fassen vermag. Vielleicht wird das die nächste Herausforderung sein, der ich mich stellen werde. Wenn ich dabei erfolgreich bin, wird man vielleicht ein neues Krankheitsbild nach mir benennen.

«Das Jascursyndrom».

Der eine oder andere Leser wird in diesen beiden Worten, «Das Jascursyndrom» bestimmt einen Hauch von Sarkasmus herausgelesen haben. Doch bedenkt eines: Hinter jedem Sarkasmus verbirgt sich die absolute Wahrheit, die vielleicht sogar eines Tages zu einem Faktum führen kann.

  
 Die Bücher 
 Die Arena 
 Kontakt