Juraj Jascur

Die Chaostheorie

Man hat mir einige Jahre aufgebrummt, mehr als ich im Moment zu ertragen glaube. Das könnt ihr mir glauben. Da ich offiziell noch der alten Stadt angehöre, werde ich in ein Gefängnis im selben Staatsbezirk eingeteilt. Es ist gigantisch, perfekt durchorganisiert und jeder Schritt eines Häftlings wird strengstens überwacht. Mein Anwalt lässt mich nicht hängen. Davon bin ich überzeugt. Als erstes sorgt er dafür, dass ich weiterhin von Dr. Sarah Rodriguez behandelt werde. Mit der angemessenen Medikation, ein paar aufmunternden Worten und dem täglichen Handauflegen auf meinem Schädel sollte ich die Zeit im Knast mühelos bestehen können. Früher war das ja auch kein Problem. Ich war ja schon damals sexsüchtig. Doch damals genügte es, wenn ich etwa zig Mal am Tag masturbierte. Ich geriet deswegen niemals in Konflikt mit den anderen oder mit den Wärtern.
Unauffällig zog ich mich mehrmals am Tag zurück, um mir Abhilfe zu verschaffen. Das war überhaupt kein Problem für mich. Aber jetzt hilft nicht einmal das. Ich glaube, dass durch den Stress, den ich erlebt habe, irgendein System in meinem Körper aktiviert ist. Ein Programm ist aufgeschaltet worden und hat sich verselbständigt. Da soll ich nun Tag ein, Tag aus, die nächsten drei Jahre damit verbringen, die Monotonie des Grauens auszuhalten. Die täglichen Besuche bei Sarah versüssen jedoch meinen tristen Alltag. Um die Leere in den dicken Mauern auszufüllen, stelle ich mich jeder Herausforderung.
Statt mich irgendeiner Gang anzuschliessen, mache ich einen auf Solo!
«Das ist der reinste Selbstmord!», meinte einmal ein Möchtegernmafiosi und starrte mich verblüfft an, so als ob ich schwachsinnig wäre.
Ich würdigte ihm nicht einmal eines Blickes und trainierte weiter an der Bankpressmaschine. Ich gebe mich lieber mit den ganz Schrägen, den Abgefuckten und den Nerds ab. Die langweilen einen wenigstens nicht. In der Autowerkstatt finde ich die richtige Beschäftigung für mich. Doch das reicht nicht um meinen Tag auszufüllen. Neuerdings lese ich und das mit voller Begeisterung. Nein echt! Wer hätte das geglaubt? Ich, der sich einunddreissig Jahre lang weigerte ein Buch bis Ende zu lesen, beschäftigt sich jetzt mit Philosophie oder hoch stehender Literatur. Je mehr ich lese, desto mehr fühle ich mich dazu angespornt, mich noch höheren Herausforderungen zu stellen.
Sich mit irgendwelchen Hirnamputierten anzulegen, oder sich ganz allein nackt in eine Dusche zu begeben, ist nicht gerade die Art von Herausforderung, die ich meine. Ich spreche von geistigen Höhenflügen, von geistigen Hürden und intellektuellen Höchstleistungen. Dabei geht es mir nicht um irgendwelche Titels oder Anerkennung von draussen. Mir genügt, wenn ich weiss, was ich kann. Eines Tages packt es mich, einfach so und ich beginne Mathematik zu studieren. Ich fange klein an. Themen wie Mengenlehre, Gleichungen, Ungleichungen, Folgen und Reihen beschäftigen mich etwa eine Woche lang. Dann gehe ich zu Grenzwertberechnungen und Stetigkeit von Funktionen. Dafür benötige ich nicht einmal zwei Tage. Für das Thema der Differentialrechnung brauche ich nur noch ein paar Stunden. Die Integralrechnung erledige ich in einer halben Stunde. Die Weiterführung der Differential- und Integralrechung ist für mich nur ein billiger Abklatsch. Verdammt nochmals, mein Gehirn schreit nach mehr Input.
Gerade eben hat mich Sarah wieder einmal beruhigen müssen. Ich war wieder nahe daran, mich in meiner eigenen Geilheit zu verlieren. Sie legt einfach ihre Hand auf meinem Kopf und ich bin wieder ganz entspannt. Meine Gedanken sind stiller. Ich habe das Gefühl, dass die Informationen mir förmlich zufliegen. Während ich den Lernplan für das Mathematikstudium der Fernuniversität Schweiz lese, wächst in mir die Überzeugung, dass ich nur im Begriffe bin eine weitere Hürde im Leben zu überwinden. Warum gerade Mathematik? Warum nicht Wirtschaft oder Psychologie? Ich glaube, ich brauche etwas woran ich mich festhalten kann. Zahlen bieten mir Ordnung und eine klare Sichtweise. das Beste an dem ganzen ist, man stösst auf keine Grenzen. Für alles gibt es eine logische Erklärung, sogar für die unmöglichen Fälle.
Seit ich mich bewusst mit Mathematik befasse, erscheint mir mein Leben immer logischer. Meine vielen Eroberungen mit Frauen hängen von Faktoren wie Aussehen, Ausstrahlung, Männlichkeit, Hormonspiegel, finanzielle Mittel, Intelligenz, und so weiter und so fort ab. Wer hätte sich jemals vorstellen können, dass ich eines Tages, eingesperrt in einer Gefängniszelle, mein Verhalten mathematisch darstelle. Also ich hätte das am allerwenigsten von mir erwartet. Dabei gehe ich rein spielerisch vor. Inzwischen bin ich so geübt, dass ich auch ohne Taschenrechner, nur im Kopf komplizierte und komplexe Rechenoperationen anstelle. Was wäre, wenn ich einen Buckel hätte? Meine Chancen hätten sich um 22.3% verringert.
Nein, nein! Das kann nicht sein! Wenn ich mit einem Buckel auf die Welt gekommen wäre, hätte ich bereits als Kind ganz andere Erfahrungen gemacht, prägende Erfahrungen, die mein Ich geprägt hätte. Meine Ausstrahlung ginge flöten, meine beruflichen Möglichkeiten wären auch dezimiert worden. Aber vielleicht hätte ich mehr Ehrgeiz entwickelt. Das hätte meine Berufschancen wieder verbessert. Ich wäre also ein kleiner Gnom mit einem Dauerständer, der regelmässig den Puff besucht hätte. In Worten ist schwer zu beschreiben, was so alles in meinem Kopf abläuft. Wenn ihr wüsstet, wie mich diese Graphiken, Zahlen, Statistiken, Kurven und Formeln anmachen, ihr würdet mich glatt für einen Spinner halten.
Nichts kann den Moment übertreffen, wo ich mit einer Frau zusammen bin, nicht einmal die Welt der Zahlen. Sobald ich jedoch länger über die Frauen nachdenke, desto eher laufe ich Gefahr, die Kontrolle über meinen Körper zu verlieren. Denn nach wie vor bin ich auf Sarahs tägliche Behandlung angewiesen. Ihre Hände sind einfach magisch. Ich hab auch schon längst den Dreh raus, wie ich erfolgreich verhindern kann, dass meine Geilheit ausartet. Ich stelle komplizierte Berechnungen in meinem Kopf an, die sich direkt auf mein Leben beziehen, wie zum Beispiel: Wie verhält sich die Intensität meiner Geilheit in Bezug zur Anzahl meiner Masturbationsakte. Ob ihr’s glaubt oder nicht, aber dafür gibt es genaue Zahlen, Formen, Definitionen und logische Aussagen.
Ob ich will oder nicht, ich verlasse mich immer mehr auf die Zahlen: Wie viele Male muss mir Sandra die Hand auf meinen Kopf auflegen, um mich für, weiss nicht wie viele Stunden zu beruhigen. Ich glaube ich sollte damit aufhören. Vor allem sollte ich mein Buch nicht mehr mit diesem Mist füllen. Von wegen, Zahlen lösen all meine Probleme. Einmal passierte etwas, womit ich nicht gerechnet hätte. Als mir irgendein Neandertaler in der Bibliothek ohne Vorwarnung auf mein Mathebuch gespukt hat, zuckte ich innerlich zusammen. Ich war so sehr in meiner Welt der Zahlen vertieft, dass mich diese unlogische Aktion fast überforderte.
Statt aufzustehen, um ihm eins in die Fresse zu hauen, sass ich wie versteinert da. Was suchte dieser Kerl überhaupt hier in der Bibliothek. Ich putzte den grünlich gelben Rotz weg, die da auf meinem Buch klebte. Gab es dafür eine Formel. Ich wagte nicht es herauszufinden. Ich war zutiefst geschockt. Als mein Buch wieder sauber war, studierte ich weiter. Das erschien mir das einzig logische in dieser Situation zu sein. Nein, nein und nochmals nein! Da fehlte doch noch eine Einheit in dem ganzen logischen Gerüst. Zwei Stunden nach diesem widerlichen Vorfall klappte ich mein Buch zusammen. Ich spürte ein schwaches Pochen in der Schläfe.
Ich bewegte mich auf den Ausgang zu, wo mich die Wärter bereits erwarteten. Sie inspizierten mich. In diesem Augenblick erkannte ich, dass ich logischer nicht hätte handeln können. Denn bestimmt hatten sie beobachtet, wie der Kerl mir ins Buch gespuckt hatte. Das gab ihnen noch keinen Anlass zu intervenieren. Wenn ich aber wenige Sekunden später aufgestanden wäre, um diesen Typen zu suchen, wären sie mir bestimmt heimlich gefolgt und hätten mir dann das Leben schwer gemacht, falls ich mich an ihm gerächt hätte.
«Bist sauber! Kannst gehen!», brummt der eine Wärter unfreundlich.
Ja, ja, ist schon gut! Du bist der Boss, dachte ich im Stillen. Das Pochen in meiner Schläfe wurde stärker. Ohne wirklich zu wissen, wohin ich ging, fühlte ich mich von einem bestimmten Ziel angezogen. Als ich in der Trainingshalle stand, erblickte ich den Neandertaler, der mir ins Buch gespukt hatte. Da lag er auf der Bank, um zweihundert Kilo zu drücken. Ich näherte mich ihm und den beiden Jungs, die ihm in seinem Vorhaben unterstützten, einen neuen Rekord zu brechen. Ganz höflich gesellte ich mich zu ihnen.
«Hallo zusammen!», begrüsste ich sie.
Oh, wenn Blicke töten könnten. Wie Bullterrier wendeten sie fast gleichzeitig ihre Gesichter zu mir. Sogar der Neandertaler erhob seinen Kopf, um mich zu sehen. Er erkannte mich.
«Lass dich nicht stören! Ich will sehen, wie du deinen eigenen Rekord brichst!», bemerkte ich mit gespielter Unschuld.
Ich zwinkerte ihm plötzlich kokett zu und formte meine Lippen zu einem Kussmund. Es kam wie es kommen musste. Der Kerl auf der Bank fühlte sich durch mich herausgefordert und richtete sich ruckartig. Er vergass seinen Rekord und wollte sich auf mich stürzen. Doch noch ehe er mich berühren konnte, griffen schon ein paar gigantische mit Testosteron voll gepumpte Beamtengorillas ein, um ihn daran zu hindern. Man steckte ihn ins Loch. Er warf mir noch einen letzten Blick zu. Ich grinste ihn nur an. Er wollte mir doch tatsächlich weiss machen, dass ich Grund hätte, mich vor ihm zu fürchten.
Ich war es nun, der sich auf die Bank legte und seinen Rekord brach. Die beiden Typen, die eigentlich dem Neandertaler hätten assistieren sollen, standen nun etwas abseits. Wie sie mich so erstaunt ansahen, erinnerten sie mich an zwei Jungs, die verlorener nicht hätten sein könnten. Ohne ihren Meister waren sie nichts. Mir taten sie irgendwie leid! Ich konnte schon das Geflüster um mich herum hören. Die beiden standen bereits auf der Liste. Noch bevor sich jemand an sie hätte vergreifen können, pfiff ich sie zu mir.
«Hey, Jungs! Helft mir mal!».
Ich brauchte ihre Hilfe nicht. Doch als ich sah, wie erleichtert sie herbei gerannt kamen, bereute ich es nicht, sie unter meiner Fittiche genommen zu haben. Während sie mir mit den Gewichten behilflich waren, liess ich keine Gelegenheit aus, die anderen hier im Saal zu mustern.
Also das ist doch Beweis genug, dass die Welt nicht nur aus Zahlen besteht. Aber wenn ich wirklich wollte, könnte ich sogar dafür eine Formel finden. Für die Chaostheorie gibt es auch keine Einheitsformel und trotzdem geht man davon aus, dass Zahlen dahinter stecken. Vielleicht basiert ja das Verhalten der Häftlinge, oder besser gesagt das Verhalten aller Menschen auf der Chaostheorie. Die folgenden Wochen und Monate vergehen langsam, viel zu langsam, ohne dass etwas Ungewöhnliches geschieht.
Ich habe mir inzwischen einen grossen Freundeskreis innerhalb dieser Gefängnismauern aufgebaut. In der Autowerkstatt gehöre ich inzwischen zum besten Mitarbeiter von Rudi. Ja, Rudi, ist sein Namen, der glaubt, die Weisheit mit Löffeln gegessen zu haben, nur weil der eine Lehre als Automechaniker absolviert hat. Ich für meinen Teil habe mich, bevor ich hier eingesperrt worden bin, noch niemals mit Autos beschäftigt. Mich interessierten nur Muschis. Mittlerweilen weiss ich mehr über Autos als er. Im Gegensatz zu ihm wage ich mich auch an Themen heran, die man in einer klassischen Ausbildung nicht behandelt. Ich bin schon seit ein paar Monaten seine rechte Hand.

  
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