Juraj Jascur

Texausschnitt Nr. 1

Nicht valide!

Geschlecht, Name, Wohnort, Alter sind nur einige von vielen Kriterien, um ein Individuum zu identifizieren.
«Haben Sie am allgemeinen Leistungstest teilgenommen?».
Mireille zuckt nur hilflos mit ihren Achseln. Sie weiss nicht, was diese Sachbearbeiterin damit meint. Die Frau mit der immensen Hakennase, den kleinen Knopfaugen und hervorstehenden Zähnen, wirft einen abfälligen Blick auf den Teenager, dessen Leistungen in der Schule niemals in Frage gestellt worden sind.
«Wie steht es denn mit der Überprüfung Ihres genetischen Codes?».
Mireille starrt diese Frau, Mitte Vierziger, mit fragenden Augen an. Dabei ist ihr Mund halb geöffnet, so dass sie den Eindruck von einer Unterbelichteten vermittelt. Wieder folgt dieser abschätzende Blick von Frau Krohn.
«Ich verstehe schon! Dort, wo Sie herkommen, ist so etwas nicht üblich.».
Mireille versteht überhaupt kein Wort. Doch sie wagt es nicht zu fragen. Sie sitzt nur auf ihrem viel zu kleinen Stuhl und starrt hilflos in das Gesicht dieser Person, die sie mit ihren winzigen Vogelartigen Augen zu durchbohrt. Ohne Vorwarnung kramt sie aus ihrer Schublade ein Apparatchen heraus.
«Legen Sie ihren Finger drauf!», befiehlt sie streng.
Mireille, die es von klein an gewohnt ist, zu gehorchen, legt hastig ihren linken Zeigefinger auf den Messapparat. Sie spürt einen winzigen Stich. Doch das ist nichts im Vergleich zu ihrem Gefühlschaos, das sich auf schmerzhafte Weise in ihrem Gehirn auftürmt.
«Sie dürfen Ihren Finger vom Apparat nehmen!».
Das Seufzen in ihrer Stimme lässt unmissverständlich darauf hindeuten, dass sie am Ende ihrer Geduld ist. Der Anlass für ihre Missstimmung ist niemand anders als Mireille selbst. Sie erkennt die Verachtung in ihrer Stimme. Sie vermag jedoch mit dieser Information nichts anzufangen. Für sie gehört das zum Alltag. Das ist schon immer so, dass irgendjemand sie wegen ihrer Art verachtet oder sich über sie ärgert. Inzwischen ist sie fast erwachsen, aber ihre Einstellung zu bestimmten Bereichen in ihrer Umwelt hat sich nicht verändert. Sie erscheinen ihr noch genauso verwirrend und beängstigend wie früher.
Es ist noch nicht einmal eine Minute vergangen, da zeigt der Apparat auf seinem Bildschirm schon die komplette Analyse ihres genetischen Codes. Frau Krohn kann mit diesen Informationen nicht viel anfangen. Sie ist nur eine gewöhnliche Sachbearbeiterin, die ihre Pflicht tut. Doch eines erkennt sie auf den ersten Blick. Sie nickt stumm und starrt noch eine Weile auf dem Bildschirm, so als ob sie all die Formeln und Kurven verstehen würde. Der Wert von Mireilles Graphik liegt ausserhalb der Norm.
«Nicht valide!».
Mireille starrt sie noch immer ahnungslos an.
«Sie wissen hoffentlich, was das bedeutet!».
«Undienlich, unverwendbar, … ».
Wie immer reagiert Mireille in schwierigen Situationen wie dieser mit Schweigen. Die vielen Wörter, die ihr zu dem Begriff «Nicht valide» einfallen, helfen ihr nicht wirklich.
«Nein?».
Verziehen sich die dünnen Lippen von Frau Krohn tatsächlich zu einem sarkastischen Lächeln.
«Ihr genetscher Code weicht von der Norm ab. Er ist unvollkommen, nicht genügend stabil, um den Anforderungen unserer Gesellschaft gerecht zu werden.».
Mireille schweigt nur.
«Intelligenz lässt sich durch das Zusammenspiel von vielen Zufällen erklären. Der genetische Bauplan reicht dabei nicht aus, um all die Aspekte eines heranreifenden Geistes zu fassen…».
Wieder fällt Mireille nichts Besseres ein, als auf ihre vielen vernetzten Daten in ihrem Kopf zurückzugreifen, um eine Erklärung für ihre Unsicherheit zu finden. Natürlich bleibt sie bei ihrem Versuch, sich zu orten, erfolglos. Sie schweigt nur und wirkt mit ihrem kleinen Köpfchen, ihrem wunderhübschen Gesicht, ihren vollen grossen Lippen, die an Wollust und Sinnlichkeit erinnern, und ihrem grossen wohlgeformten Körper noch dümmer als sie sich schon fühlt.
Ihre Lippen bleiben stets halb geöffnet. Jeder, der in ihr wunderhübsches Gesichtchen blicken würde, käme unweigerlich auf den Schluss, dass er es mit einer Ungebildeten zu tun hätte, die der Zivilisation ständig um zehn Schritte hinterherhinkt. In der Tat weiss Mireille nicht alles. Es bedarf keiner grossen geistigen Fähigkeiten, um über die Normierung des genetischen Bauplanes Bescheid zu wissen. Ihre Eltern haben sie nicht darüber aufgeklärt. Denn dort, wo sie geboren und aufgewachsen ist, versuchen die Menschen solchen Normierungen aus dem Weg zu gehen.
Herr Schuddel, der nichts von derartigen Bewertungen hält, hat sie und ihre ehemaligen Mitschüler niemals davon in Kenntnis gesetzt, dass die Menschen aufgrund ihrer Veranlagungen katalogisiert werden. Dass die Bewertung ihrer Chromosomen und deren Anordnung laut dieser kleinen Maschine nicht akzeptabel sind, weiss sie noch immer nicht. Statt energisch auf ihr Recht zu pochen, aufgeklärt zu werden, verhüllt sie sich in Schweigen. All ihr Wissen, das sie wie einen Schatz hütet, bringt ihr nichts. Sie sitzt nur da und schweigt. Sie kommt sich vor wie eine Gefangene ihrer selbst und ist sich dessen noch nicht einmal bewusst.
Als alle Formalitäten erledigt sind, erscheint ein pyknischer Kerl. Er ist gerade mal hundertfünfundsechzig Zentimeter gross und erinnert an einen pummeligen Zwerg. Sein beharrter Bauch lugt aufdringlich aus seinem viel zu kurzen T-Shirt heraus. Doch der Schein trügt. Er gehört zu den besten Vorarbeiter der Firma «Arbeit macht frei». Selbstbewusst stellt er sich breitbeinig vor ihr hin. Wie auf Abruf steht Mireille ruckartig auf. Trotz ihrer Grösse erkennt man auf Anhieb, dass der kleine grobschlächtige Kerl hierarchisch über sie steht. Reflexartig streckt sie ihm ihre rechte Hand zum Gruss entgegen. Doch ihr zukünftiger Vorgesetzter reagiert nicht darauf, sondern kehrt ihr arrogant den Rücken zu. Sein Name ist Ricky Tonelli.
«Wir haben keine Zeit, Kleine! Also, beweg deine müden Knochen und Abmarsch!».
Unbeholfen trabt sie ihm hinterher. Obwohl ihre Schritte fast doppelt so lang sind, wie die seinen, hat sie Mühe ihm zu folgen. Ihre nackten Schenkel reiben sich auf unangenehme Weise aneinander. Er führt sie nach draussen, wo schon seine Crew wartet. Das grelle Sonnenlicht wird von dem weiss silbrigen Bus reflektiert. Die anderen, welche ebenfalls heute frisch anfangen, tummeln sich zu Dutzenden um dieses altmodische Gefährt herum. Mireille presst ihre Augenlieder zusammen, um sich vor dem Sonnenlicht zu schützen. Der Stand der Sonne verrät Mireille die Uhrzeit auf die Minute genau. Nebst Physik, Astronomie, Neuromikrobiologie und dergleichen, befasst sie sich auch mit Geographie, Kartenkunde, Geologie.
Ihr entgehen sogar die schiefen Blicke der anderen. Aufgrund ihres unpassenden Outfits zieht sie die Aufmerksamkeit der anderen auf sich. Ihr bäuerlich altmodischer Rock, der viel zu kurz ist, erinnert an ein rückständiges sexhungrigen Weibchens ohne Klasse. Ihr kariertes Hemd untermauert bloss ihre niedere Herkunft, obwohl es überhaupt nicht zu ihrem billigen «Sexyröckchen» passt.
«Los, hinein mit euch! Wir sind eh schon spät dran!», befiehlt er roh.
Seine tiefe Stimme schwingt unangenehm in der Luft. Mireille, die mit Abstand die Jüngste unter ihnen ist, fühlt sich schon jetzt überfordert. Krampfhaft versucht sie nicht aufzufallen und stolpert. Unweigerlich beginnen einige daraufhin zu kichern.
«Silencio!».
Mireille zuckt bei Ricky Tonnelis Gebrüll sichtlich zusammen. Zusammen mit den anderen quetscht sie sich in dieses schlauchartige Gefährt, das in Kürze durch die künstlich verdichtete Luft zischen wird.
«Autsch, pass doch auf, du Tollpatsch!», faucht eine drahtige junge Frau, die sportlich gekleidet ist.
Ihr strenger Blick ist direkt auf Mireille gerichtet, die gegenüber ihr wie ein Riese wirkt.
«Tschuldigung!», murmelt sie schüchtern.
Trotz deren Körpergrösse fühlt sich die athletische Trixiana in keiner Weise von ihr eingeschüchtert. Im Gegenteil, mit einem abschätzigen Blick beginnt sie die um fast zwei Köpfe grössere Teenagerin zu mustern. Ihre Wut hat sich in Belustigung gewandelt.
«Wohl neu hier im Gewerbe, nich?».
Mireille, die im Umgang mit Menschen völlig ahnungslos und naiv ist, streckt ihr übereifrig ihre rechte Hand entgegen. Trixiana denkt nicht daran ihr die Hand zu schüttelt. Sie legt ihre Stirn in Falten und schnalzt mit der Zunge. Als ob sie ihr nicht schon genügend Hinweise gegeben hätte, dass sie nichts von ihr hält, beginnt sich Mireille auch noch vorzustellen.
«Ich bin die Mireille, und du? Ich arbeite heute zum ersten Mal.».
Einige andere Frauen verfolgen den Dialog der beiden. Alle ausser Mireille haben erkannt, dass es Trixiana nicht ehrlich meint. Ihr Sarkasmus ist nicht zu überhören. Während sich das schlauchartige Ding in die Lüfte hebt, berichtet die ahnungslose Mireille von ihrer familiären Situation und wie es dazu gekommen ist, dass sie jetzt die Schule hat verlassen müssen.
«So, so, du bist also ein Opfer der Gesellschaft! Armes Ding!».
Mireille, die immer noch davon ausgeht, dass Trixiana ihr aufrichtiges Beileid ausdrückt, redet weiter und weiter. In ihrer Stimme erkennt man, dass sie aufgeregt und den Umgang mit Menschen nicht gewohnt ist. Bewusst überhört sie sogar das Gekicher der anderen, weil sie das sonst aus dem Konzept gebracht hätte.
«Hopsala!», schiesst es aus Mireille heraus, die bei einer scharfen Linkswendung des Busses ihr Gleichgewicht verliert und gegen Trixiana kippt.
Wieder folgt ein Gekicher. Das muss wohl daran liegen, dass sich Jugendliche und Erwachsene sich für gewöhnlich nicht auf eine so kindliche Weise äussern.
«Ooch, hopsala! Ist ja nichts passiert!», erwidert Trixiana.
Mireille schenkt ihr ein aufrichtiges Lächeln. Es läuft ihr jedoch eiskalt den Rücken herunter, als sie in ihre kalten Augen blickt. Es folgen noch weitere scharfe Drehungen dieses weiss silbrigen Dinges, das über keine Sitzfläche verfügt. Mireille lernt schnell. Sie schafft es, ihre Balance zu behalten. Dabei stellt sie sich sogar besser an, als die anderen hier.
In knapp einer viertel Stunde erreichen sie die Mare Serenitatis. Das liegt etwa 10o bis 30o nördlich und 0o bis 30o Östlich. Das ist nur ein kleiner Teil des grössten Fabrikgeländes im ganzen Sonnensystem. Mireille, die ihr Leben lang im Niemandsquadranten verbracht hat, ist überwältigt. Die anderen zeigen sich alles andere als beeindruckt. Sie kommen ja auch aus besseren Gegenden. Alles ist besser als der Niemandsquadrant, der sich von 60o bis 80 o West, und 0o bis 10o Süd erstreckt. Hier lebt nur der allerletzte Abschaum. Sogar für die Erdtrabantianer ist dieses Leben hier unter aller Sau.
«Stammst aber nicht per Zufall vom Niemandsquadrant?».
Es ist wieder Trixiana, die gefragt hat. Betroffen senkt Mireille ihren Blick.
«Ist ja nich weiter schlimm! Wir haben ein Herz für Abschaum, weisst du? Du kannst dann gleich damit beginnen, uns unsere Schuhe zu putzen!».
Mireille starrt sie entsetzt an.
«Kein Problem, Easy, Mädchen! Alles läuft mit rechten Dingen zu! Du bekommst dafür auch einen Extrabatzen.».
Trixiana zwinkert ihr keck zu. Mireille ist ihr wieder auf den Leim gegangen. Man braucht nur in ihr fragendes, unschuldiges Gesicht zu blicken, um zu erkennen, woher sie kommt. Es steht ihr einfach ins Gesicht geschrieben. Man kann es förmlich riechen, dass sie eine Hinterwäldlerin ist.
«Wie steht’s mit deinen Genen, hm?».
Mireille starrt Trixiana wieder mit demselben unschuldigen und verwirrten Gesichtsausdruck an.
«Zeig mal deinen Personalausweis!».
Mireille zögert keinen Augenblick ihren Wunsch zu erfüllen. Bevor sie aussteigen, kann sich Trixiana und die anderen davon überzeugen, dass Mireille nicht nur eine Hinterwäldlerin vom Niemandsquadranten ist, sondern zu ihrem allem Übel auch noch eine Ausgegrenzte.
«Du tust mir schon jetzt echt leid!».
«W-warum?».
Ihr Gestammel lässt sie wieder einmal noch dümmlicher erscheinen, als sie in Wirklichkeit ist. Sie wartet vergebens auf eine Antwort. Der Bus landet recht unsanft auf dem Boden. Die erschreckten Frauen verlieren ihr Gleichgewicht. Das Gekreische ist nicht zu überhören. Nur Mireille schweigt und kämpft gegen ihre Ängste an. Noch ehe sie zusammen mit den anderen aussteigt, schiesst ihr ganzes bisheriges Leben an ihr vorbei.
Sie verbringt schon ihr ganzes Leben an einem Ort, der von den meisten gemieden wird. Das ist ihr bisher nicht bewusst gewesen. Auf dem Mond, der um die Erde kreist, leben ungefähr 2 Milliarden Menschen. Sie bilden eine Einheit für sich. Gleichzeitig gehören sie zu einem Teil von etwas viel größerem, das sich Bundesstaat nennt, der hierarchisch klar gegliedert ist.
Der Sitz der Bundesregierung befindet sich auf den Riesensatelliten, die ständig in Bewegung sind. Sie dürfen jedoch keineswegs mit den Satelliten verwechselt werden, die der feindlichen Raschnaorganisation angehören. Auch sie befinden sich in ständiger Bewegung. Ob feindlich oder nicht, sie haben weder eine feste Route, noch einen festen Standort. Sie sind nirgends und überall. Sie sind allgegenwärtig. Nur ein geübtes Auge vermag sie in der Dunkelheit im All zu erkennen. Mireille gehört zu den wenigen Menschen, welche dazu in der Lage sind.
Insgeheim träumt sie davon einmal den Weltraum zu erobern. Noch bevor sie ihren Fuss auf den Mondstaub setzt, kehrt sie wieder in die Realität zurück. Das Gedröhne und Geächze alter und neuer Maschinen lenkt ihre ganze Aufmerksamkeit auf sich. Zu gern würde sie herausfinden wie sie funktionieren. Unglücklicherweise wird sie hier nur als Putzfrau arbeiten. Ein Glatzköpfiger Mann mit nacktem Oberkörper begrüsst Ricky Tonelli wie einen alten Freund. Er ist über zwei Meter gross und voller Muskeln. Als er den kleinen Zwerg hochhebt, stehen die Neuankömmlinge wie angewurzelt stehen. Diese Szene erscheint sogar in den Augen von Trixiana als recht ungewöhnlich.
«Was hast du mir da Schönes mitgebracht? Ich hoffe, die taugen was!».
Ricky, der endlich wieder den Boden unter seinen Füssen spürt, beginnt die neuen Arbeiter zu beschreiben, so als ob es sich um seine Ware handle. Dabei streift er sich mit seinen Fingern lässig über seinen mächtigen Schnurrbart.
«Ach ne, eine Ausgegrenzte hast du uns auch noch mitgebracht! Na, das kann ja heiter werden! Aber weisst du was, schick sie gleich zu mir! Ich könnte noch eine für die verstopften Abflussröhren brauchen!».
Wie ein Krebsgeschwür breitet sich die Produktionsmaschinerie zwischen dem Nord- und dem Südpol aus. Mare Serenitatis, Mare Imbrium, Mare Tranquillitatis, Mare Nectaris, Mare Fecundidatis, Mare Nubium, Mare Frigoris und Oceanus Procellarum dienen schon seit vielen Jahrhunderten als Produktions-, Lager-, Umlade- und Umschlagsplätze. Bisher ist noch kein Makler auf die Idee gekommen, hier Wohnbezirke zu erschaffen. Was für einen Sinn hätte das! Der ständige Lärm und die fürchterliche Luftverschmutzung machen hier ein Menschengerechtes Wohnen unmöglich.
Es wird auch auf anderen Monden oder Planeten produziert, verladen und gebaut. Aber nirgends wird so viel geleistet wie hier auf dem Mond, der um den Planet Erde kreist. Hier werden die Weichen für die kommenden Wirtschaftsjahre gestellt. Das ganze Sonnensystem konzentriert sich um den einen kleinen Trabanten. Zum Wohnen ist der eigentlich gar nicht gedacht. Als man vor über eineinhalbtausend Jahren Menschen nach ihrer genetischen Qualität einzuteilen beginnt, erhält der Begriff Ausgrenzung eine ganz neue Bedeutung. Der Erdenmond wird dazu auserkoren, viele der Verdammten hierher zu schaffen, um ein Teil einer riesigen Produktionsstätte zu werden.
Vieles bewahrheitet sich. Der Erdenmond ist die grösste Produktionsstätte des Sonnensystems. Dass die Ausgegrenzten nur hier zur allgemeinen Wirtschaft beitragen, erweist sich schon vor geraumer Zeit als Illusion. Die Ausgegrenzten sind im ganzen Sonnensystem verteilt und leben dort, wo sie gebraucht werden. Sie haben schon lange aufgehört ein Teil dieses Systems zu werden. Trotzdem werden sie mehr gebraucht, ja mehr noch, sie werden ausgebeutet und misshandelt.
Ihre Rechte sind stark reduziert. Überall stossen sie auf verschlossene Türen. Egal, ob es sich um die Wahl einer geeigneten Wohnung, Ausbildung oder eines geeigneten Ehepartners handelt, sie stossen ständig auf Hindernisse. Ihnen bleibt nichts anderes übrig, als sich in Ghettos auszubreiten oder in ländlichen Einöden zu versauern. Sich mit einem genetisch reinen Menschen zu paaren, ist gesetzlich verboten. Aber was heisst schon genetisch rein. Selbst die nicht ausgegrenzten Menschen unterliegen einer starken hierarchischen Ordnung, was ihre genetische Veranlagung anbelangt.
Man differenziert zwischen Reineren und weniger Reineren. Diejenigen, welche der untersten Schicht angehören, aber noch als genetisch rein eingestuft werden können, leiden fast genauso wie die Ausgegrenzten. Mireille, die einerseits so viel weiss, aber keine Ahnung von ihrer eigenen Herkunft hat, ist eine Gefangene. Sie ist eine Gefangene im Kopf. Ihre Gedanken, Gefühle und ihr ganzes Innere sind in ihrem Gehirn eingeschlossen. Nur ihre irdische Hülle ist sichtbar. Ihr makelloser, gesunder und kräftiger Körper, ihr hübsches Gesicht und ihre simple Sprache werden von ihren Mitmenschen wahrgenommen.
Die ahnungslose Mireille beginnt erst jetzt langsam, aber sicher zu begreifen, warum sie von allen verachtet wird. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis sie erkennen wird, warum sie ihr Vater hasst. Doch im Augenblick befasst sie sich mit elementareren Dingen, nämlich wie sie überlebt. Statt ihren Vater im Gefängnis zu besuchen, flüchtet sie in ihre kleine Welt. Sie ist immer noch eine Gefangene im Kopf, die sich mit Fragen hinsichtlich ihrer genetischen Unreinheit überfordert fühlt.
Also versucht sie sich viel einfacheren Herausforderungen zu stellen. Doch auch das scheint sie zu überfordern. Schon seit einer Stunde unterstützt sie das Team, welche sich ebenfalls aus Unreinen zusammensetzen, tatkräftig dabei, kaputte Rohre auseinander zu nehmen, sie zu reinigen und sie durch neue zu ersetzen. Dass sie trotz ihres grossen Wissens, Genialität und hoher technischer und handwerklicher Begabung die Rolle eines Handlangers spielt, ist voraussehbar.
Verzweifelt versucht sie sich in einem Team gewinnbringend einzubringen. Während sie von den anderen nur angeschrieen und herumkommandiert wird, baut sich in ihrem Hinterkopf ein neues Wissen aus. Es stellt ein Gerüst von Informationseinheiten dar, das noch sehr instabil ist. Dieses Gerüst beinhaltet das gesamte Wissen über ihre Existenz, ihrer Daseinsberechtigung und ihrem menschlichen Recht auf Leben.
Wie lückenhaft ihr Wissen über ihre eigene Identität jedoch ist, zeigt sich in ihrem Umgang mit ihren Mitmenschen. Statt ihre Fehler zu hinterfragen, ordnet sie sich jedem und alles unter, nur um es jedem Recht zu machen. Sie wagt es noch nicht einmal die Misshandlungen ihres Vaters zu hinterfragen, welche sie am eigenen Leibe spürt. Wenn sie wüsste, warum sie ihr Vater so hasst, wäre sie endlich aufgeklärt. Sein Name ist Klaus Wenzel und jetzt sitzt er im Gefängnis, weil er ein Verbrechen begangen hat...

Textausschnitt Nr. 2

...Das Land und das Haus hier rechtfertigt gerade noch das Wohnrecht ihrer Mutter. Mit ihrem Mindesteinkommen schafft sie es kaum sich selbst zu ernähren. Würde sie sich nicht mehrmals im Monat nur von Gras und Zweigen ernähren, könnte sie ihre Rechnungen nicht begleichen. Als Mireille noch gearbeitet hat, hat sie ihrer Mutter regelmässig die nötigen Punkte geschickt, um ihr Leben etwas erträglicher zu gestalten.
«Mama, ich werde noch heute abreisen!», verkündet sie eines Tages ihrer Mutter, als sie gerade damit beschäftigt sind, einen Brennnesselsalat mit Schnecken zu verzerren.
«Ist gut.», erwidert Gudrun trocken und schöpft sich unentwegt das Grünzeug in den Mund.
Sie kaut, schluckt, kaut, schluckt und lässt sich die schleimigen Schnecken auf der Zunge zergehen. Mireilles Begeisterung für dieses Essen hält sich in Grenzen. Es gelüstet sie vielmehr nach einem Hasenbraten. Doch das Jagdverbot ist vor geraumer Zeit ausgesprochen worden. Man darf sich entweder nur selbst Tiere für den eigenen Verzerr halten oder kauft sich Fleisch. Aber das erweist sich heutzutage als sehr kostspielig. Ohne die flüssigen Eiweisspräparate, die sie regelmässig in sich reinschütten, könnten sie nicht überleben.
Noch in dieser Nacht, es ist 22.30 Uhr, der 16. Juni 3876, verlässt Mireille erneut ihr Zuhause. Vor einem Monat, also dem 5. Mai 3876 hat sie ihren Neunzehnten gefeiert. Der Duft nach feuchtem Heu löst in ihr tiefe Gefühle der Trauer aus. Es kostet sie grosse Überwindung, diesen Schritt zu tun. Am liebsten hätte sie wieder kehrt gemacht, um noch einen Tag bei ihrer Mutter zu verweilen, und vielleicht noch einen Tag und noch einen Tag.
«Stopp!», sagt sie immer wieder zu sich selbst.
Sie darf nicht schwach werden. Erst jetzt, wo sie auf die Wälder zu marschiert, fällt ihr ein, dass ihr jeglicher Plan fehlt. Seit sechs Wochen beschliesst sie ihre Mutter zu verlassen, ohne ernsthaft darüber nachzudenken. Sie hat nicht einmal die geringste Vorstellung darüber, welchen Schritt sie als nächstes begehen soll.
Als Kind darf sie ungehindert im Wald herumzutollen. Einem Erwachsenen ist es nur gestattet, sich hier aufzuhalten, wenn man einen eigenen Wohnsitz und ein Mindesteinkommen verzeichnen kann. Ihre Mutter gehört zu den wenigen Unreinen, die sich glücklich schätzen können, weil sie wenigsten in den Genuss kommen einen Platz für sich zu beanspruchen.
Mireille gilt nun offiziell als Heimatlose, von der man verlangt, dass sie sich bei einer der vielen Fürsorgebehörden meldet. Ihre Schritte werden immer unsicherer, bis sie plötzlich anhält. Angstvoll blickt sie in das dunkle Dickicht. Voller Entsetzen stellt sie sich vor, wie man sie bereits im Visier hat.

Die blaue Zone

«Sag mal, fesche junge Frau, kannst du mir sagen, wie das hier so abläuft?».
Mireille, die schon seit dreiviertel Stunden in der Schlange steht, dreht sich erschocken nach der tiefen und rauen Stimme hinter ihr um. Zwei kleine braune Augen blicken sie freundlich an.
«Nein.».
Kaum hat sie sich von ihm abgedreht, vernimmt sie erneut dieselbe Stimme.
«Sag mal, Kind! Findest du das richtig, dass wir hier so lange stehen müssen?».
Mireille blickt diesem kleinen gedrungenen Kerl von vielleicht fünfzig Jahren erneut in seine kleinen lustigen Augen, um nicht unhöflich zu erscheinen.
«Ich weiss nicht.», gibt sie ihm unsicher zur Antwort.
«Weisst du denn, wie du heisst?», fragt er sie, noch bevor sie Zeit gefunden hat, sich von ihm abzuwenden.
«Ja.».
«Dann verrat mir doch deinen Namen.».
«Mireille Wenzel.».
«Wie alt bist du, wenn man fragen darf.».
«Neunzehn.».
«Und woher kommst du denn, mein liebes Kind? Haben dich deine Eltern rausgeworfen? Ich hoffe nicht! Das würde mir das Herz brechen.».
Mireille ist verwirrt.
«Nein, ich wurde nicht rausgeworfen. Ich ging freiwillig.», teilt sie ihm mit monotoner Stimme mit.
Den Wohnort ihrer Mutter verschweigt sie bewusst. Sie hat zu viele Greuelmärchen von Mördern und Vergewaltigern gehört. Wie ein gemeingefährlicher Verbrecher sieht er nicht unbedingt aus.
«Aber bestimmt haben dir deine Eltern gesagt, dass es Zeit wird, dass du von zu Hause ausziehst.».
«Nein.».
«Aber Andeutungen hast du dir bestimmt anhören müssen. Kein Geld! - Du isst zu viel - und dergleichen.».
«Ist schon gut, Kleines! Das soll kein Verhör werden. Ich wollte mich nur ein wenig mit dir unterhalten. Immer noch besser, als hier dumm nach vorne zu glotzen. Nich? Hi, hi, hi!», beschwichtigt sie der kleine Kerl, der noch rechtzeitig merkt, dass er Mireille mit seiner Fragerei total verunsichert.
«Ich bin übrigens Gustav. Nenn mich einfach Gusti.»
«Gehören hier alle der Klasse unrein an?», fragt sie ihn plötzlich unvermittelt, als sie hier vergeblich nach einer Uniform Ausschau hält, die nicht khakifarben ist.
Gustis Gesicht verändert sich auf einmal zu einer Miene des Entsetzens.
«Du lieber Himmel, Kind! Sprich das Wort unrein nicht so laut aus! Schschschsch!».
Seine Stimme klingt direkt vorwurfsvoll und voller Angst.
«Warum?».
Der kleine Mann rollt schockiert mit seinen Augen.
«Was heisst denn hier warum? Und überhaupt, spielt das denn für dich eine Rolle!».
«Ich weiss nicht.».
Mireille starrt verwirrt und beschämt auf den Boden. Die Röte steigt ihr ins Gesicht.
«Ist ja schon gut! Ich meinte es nicht so! Ich reagiere halt etwas allergisch auf Worte wie unrein. Das hört sich so schmutzig an. Und wir sind nicht schmutzig, hörst du! Und noch etwas! Hier bitten auch die so genannten Reinen um Hilfe. Denke ich jedenfalls.».
Wieder versucht er sie zu beschwichtigen. Doch Mireille hat genug von ihm. Trotzig kehrt sie ihm den Rücken zu und starrt nur noch nach vorne, bis sie endlich an der Reihe ist. Die Stimme des kleinen Mannes versucht sie vergebens zu besänftigen. Mireille tut das, was sie am besten kann. Sie schaltet alle Reize, die sie an Menschen erinnern aus und konzentriert sich auf die weissen sterilen Wände dieses Gebäudes. Fachkundig checkt sie die Masse. Zahlen, Formeln und architektonische Definitionen erscheinen bildhaft vor ihrem geistigen Auge. Das Gefühl unglaublicher Zufriedenheit steigt in ihr hoch. Wieder einmal hat sie es geschafft, zwischenmenschlichen Konflikten aus dem Weg zu gehen. Dabei hat sie sich streng vorgenommen, an sich selbst zu arbeiten.
Mit schweren Schritten bewegt sie sich auf den Eingang des ihr zugewiesenen Raums zu. Laserstrahlen sorgen dafür, dass keine ungebetenen Gäste hineingelangen, andernfalls bekommt man die Kraft der Technik am eigenen Leib zu spüren. Für einen kurzen Moment verschwinden die gefährlichen Strahlen, so dass Mireille passieren kann. Sie betritt einen kleinen Raum. Eine kleine weibliche Zwerggestalt, deren Extremitäten überdimensional gross wirken im Vergleich zu ihrem winzigen Rumpf begrüsst sie mit einem breiten Lächeln. Ihr riesiger Mund lässt ihre weissen Zähne zum Vorschein kommen.
«Grüss dich, Mireille Wenzel!».
«Guten Tag!», erwidert sie unsicher.
Sie kann sich schon denken, warum sie bereits ihre Daten kennt. Der Staat ist den Bürgern immer um tausend Schritte voraus. Transparenz ist alles – Verstecken ist unmöglich.
«Dann wollen wir gleich zur Sache gehen! Du warst neulich im Wald. Das steht alles in den elektronischen Aufzeichnungen. Du hattest ursprünglich etwas vor. Nicht? Zum Glück hast du dich dann doch noch um entschieden das richtige zu tun. Gratulation!».
Mireille schweigt. Sie tut so, als ob sie der Frau mit dem winzigen Gesichtchen und der riesigen Brille direkt in ihre Augen blicken würde. Dabei starrt sie ihr vorsichtig auf ihre Nasenspitze. Es folgt nun eine Befragungsstunde. Mireille antwortet sehr einsilbig, entweder mit «Ja» oder «Nein». Nur ganz selten kommt es vor, dass sie von sich aus Angaben machen muss.
«So, kommen wir jetzt zum Abschluss unseres Gesprächs! Du wirst einer der vielen Putzkolonnen zugeteilt. Ein fester Wohnsitz wird nicht von Nöten sein. Der Lohn wird zu gering sein, um deinen Lebensunterhalt zu finanzieren. Für den fehlenden Teil kommt die Sozialbehörde auf.».
Plötzlich verändert die kleine Frau ihren Gesichtsausdruck.
«Von dir erwarten wir, dass du dich an die Regeln hältst. Du verlässt ohne eine offizielle Genehmigung auf keinen Fall deinen Arbeitsplatz. Du isst und schläfst zusammen mit den anderen der Putzcrew. Ihr werdet nie am selben Ort sein. Ihr werdet also durch das ganze Sonnensystem pendeln. Du darfst also kostenlos die Welt kennen lernen! Ich gratuliere dich dazu das Richtige getan zu haben!».
Mireilles Herz scheint sich zu verkrampfen. Noch während sie der kleinen mageren Gestalt ihre Hand zum Abschied reicht, glaubt sie den Boden unter ihren Füssen zu verlieren.
«Nein! Da geht’s lang!», ertönt die Stimme dieser kleinwüchsigen Beamtin streng.
Mireille wirft noch einen letzten Blick zu der Öffnung, die sie vor knapp einer Stunde passiert hat, so als ob sie sich von ihrem alten Leben verabschieden möchte. Sie beisst sich in die Lippen und fühlt sich wie eine Gefangene. Sie wagt es nicht dieser kleinen Person mit der blonden Frisur zu widersprechen. Sie erblickt eine Tür am anderen Ende des Raumes und schreitet darauf zu. Sie holt tief Luft, bevor sie sie öffnet und einen weiteren Schritt in Richtung Ungewissheit macht.
«Begebe dich zur blauen Zone und melde dich dann dort.», ertönt die strenge Stimme in ihrem Kopf.
Bei dem Anblick der vielen Flugobjekte und hektischen Menschen, die diese gigantische Rampe füllen, schnürt sich ihre Kehle zusammen. Ihr Herz beginnt zu rasen. Über sie wölbt sich ein Sternenklarer Himmel. Tausende von Raketen schiessen fast gleichzeitig nach oben. Der Anblick berauscht und beängstigt sie zu gleich. Ihre Logik zufolge wird sie sich in Kürze in eines dieser Rakete einfinden, um mit Höchstgeschwindigkeit auf eine ungewisse Zukunft entgegenzurasen. Da endlich erkennt sie die blaue Zone. Ihr Magen verkrampft sich allein bei seinem Anblick. Jetzt wird es ernst. Es gibt kein zurück mehr. Ach, wäre sie doch im Wald geblieben! Aber nein, aber nein! Das hätte keinen Sinn gemacht. Die Satelliten lassen mit ihren nie ruhenden Detektoren keinen Millimeter des Sonnensystems aus. Die Zwergenhafte Frau hat es ihr ja bestätigt, dass sie bereits im Visier des gigantischen Staatsapparats gestanden hat.
Sie zuckt innerlich zusammen, als sie feststellt, dass auf einmal ohne Vorwarnung von allen Richtungen Menschen in Khakiuniform zusammenströmen, die dasselbe Ziel verfolgen wie sie. Die blaue Zone! Trotz ihrer Körpergrösse fühlt sie sich hilflos und schwach. Sie glaubt von der Menschenmasse erdrückt zu werden. Dass es den anderen um sie herum ähnlich ergehen könnte wie ihr, kommt ihr nicht in den Sinn. Plötzlich kommen gewaltige Roboter herbeigerauscht. Sie veranstalten einen unglaublichen Lärm. Ihr schnatterndes Geräusch ist Ohrenbetäubend. Sie treiben mit ihren Armen, die wie aus dem nichts aus ihrem Rumpf herausschiessen, die Menschen wie eine Herde Vieh noch enger zusammen.
Mireille starrt in alle Richtungen. Gefangen! Insgeheim fragt sie sich, ob es überhaupt einen Unterschied machen würde, wenn sie rechtlos wäre. Wie aus dem nichts erscheinen riesige Flugobjekte. Ihre Körper ähneln unförmigen Makrophagen. Eine Tür ist nicht auszumachen. Plötzlich öffnen sie sich und stürzen sie sich auf die in Panik geratene Masse, um hunderte von Menschen zu verschlingen. Das muss wohl der berühmte Überrumplungseffekt sein, wovon die ganze Welt immerzu redet. Mireille fühlt sich gezwungenermassen als Teil einer lebendigen Masse. Sie kann sich nicht dagegen wehren. Sie gehört dazu. Wenn die anderen kreischen, kreischt sie auch. Es ist so, als ob sie von einer fremden Macht geleitet wäre. Obwohl ihr Geist mit erschreckender Deutlichkeit und Klarheit die Situation analysiert, vermag sie ihr Handeln und Fühlen nicht zu kontrollieren. Sie ist gespalten. Paralysiert.
Mireille wird noch früh genug mit ihrem Herzen begreifen, dass Menschen auf diese Weise gehörig gemacht werden. Ihr Verstand reicht nicht aus, um diese Extremsituation zu begreifen. Als sich eines dieser fliegenden Monster nun auch über sie stürzt, erstarrt sie innerlich. Sie schliesst ihre Augen, weil sie davon ausgeht, dass ihr letztes Stündlein geschlagen hat. Sie ist von Finsternis umgeben. Gedanken schiessen ihr durch den Kopf. Hätte sie noch eine Stelle, würde sie nicht jetzt hier sein. Wie lange darf wohl ihre Mutter bei den ständig sich verändernden Kosten den Anspruch als Wohnsitzberechtigte geniessen. Ob sie sich wohl auch eines Tages hier in der blauen Zone melden muss?
Nach wenigen Augenblicken des Schreckens, halten sie an. Mireille und die anderen haben das noch nicht einmal realisiert. Ohne Vorwarnung öffnet sich die riesige Bohne, in der sie sich aufgehalten haben. Grelles Licht schiesst unbarmherzig auf die erschreckten Gestalten. Ein unheimliches Tuuutgeräusch veranlasst die Passagiere dazu das Raumschiff zu verlassen. Der Boden unter ihren Füssen beginnt sich zu bewegen. Wie hilflose Insekten werden sie buchstäblich hinausgefegt. «Tuuuuuuuuuuuuuuut!».
Die Menschenmenge gleicht einer gleichgeschalteten Masse, die sich leicht lenken lässt. Mireille hebt sich in diesem verängstigten Haufen keineswegs hervor. Sie stellt einen Teil dieser gleichgeschalteten Ordnung dar. Als sie diesem Winzling von einem Menschen gegenübergestanden hat, hat sie noch echte Gefühle der Angst, aber auch des Willens und inneren Trotzes gehabt. Kaum hat sie jedoch die blaue Zone betreten, haben sich ihre differenzierten Gefühle in Panik umgewandelt. Auf Panik folgt für gewöhnlich Stumpfsinn und innere Leere. Mireille fühlt sich tatsächlich leer. Sie erfüllt die ideale Voraussetzung, um ein neues Wertsystem in sich aufzunehmen, Befehle zu empfangen und auszuführen.
Mireille landet recht unsanft auf hartem Beton. Dank ihrer ausgeprägten Körperkoordinierung schafft sie es das Gleichgewicht zu behalten. Hastig starrt sie in alle Richtungen. Es halten noch andere bohnenartige Flugobjekte knapp zwei Meter über dem harten Asphalt. Auf dieselbe Weise, wie sie eben aus dem künstlichen Körper ausgespuckt worden ist, werden Menschen wie Abfall aus ihnen befördert. Immer mehr Menschen drängen sich in fieberhafter Hast um sie herum. Dieser Ort gleicht einer Kaserne. Vergeblich sucht sie nach einem Anzeichen von Natur. So weit ihr Auge reicht, sie erkennt nicht ein einziges Pflänzlein. Diese ganze Zusammenkunft gleicht einem knallharten Rekrutierungsprozess von Soldaten, die auf den Krieg vorbereitet werden.
Eifrige Andruiden beginnen den Haufen durchzuzählen. Mireille, die sie unentwegt beobachtet, glaubt ihre Zählmethode verstanden zu haben. Wie aus dem Nichts erscheinen plötzlich grobschlächtige Männer und Frauen in metallartigen Uniformen. Sie bleiben einfach stehen, als ob sie auf ein Zeichen warteten. Ganz unerwartet schiessen hauchdünne Metallschranken etwa einen Meter über dem Boden. Die Masse wird dadurch in gleichgrosse Quadranten unterteilt. Einige Menschen wagen es sogar, auf die uniformierten Ungetüme zuzugehen, um ihnen Fragen zu stellen. Mireille beobachtet sie voller Misstrauen. Sie geben sogar Auskunft.
Plötzlich bildet sich in jedem Quadranten eine Öffnung inmitten des glatten Bodens. Treppen führen nach unten. Knapp zwanzig Meter weiter unten erreichen sie den ersten Stock. Grazile Andruiden sorgen dafür, dass einige Menschen nicht weiter nach unten gehen. Auch Mireille wird von einem Andruiden höflichst aufgefordert hier oben zu bleiben. Sie findet dafür nur eine Erklärung. Die Menschen sind hier biometrisch erfasst worden, so dass sie leichter wieder erkannt und der richtigen Stelle zugewiesen werden können. Unzählige von Zügen huschen an ihnen vorbei. Es gibt jedoch auch Züge, die angehalten haben. Sie wagt einen weiteren Schritt in die Ungewissheit. Ohne gross nachzudenken geht sie auf eines dieser langen eleganten Gefährte zu.
Sie steigt ein und wundert sich nicht einmal, dass sie niemnand daran gehindert hat. Sie glaubt das logistische Prinzip begriffen zu haben. Die Menschen hier sind alle gekennzeichnet worden. Sie vermag jedoch beim besten Willen nicht zu bestimmen, wann, wie und wo das passiert sein mag. Sie ist zu aufgeregt gewesen, um das zu erfassen. Nun geschieht alles wie von selbst. Die Automatismen sind bereits im vollen Gange. Mireille, die für gewöhnlich den Kontakt mit Menschen meidet, wünscht sich jetzt sogar, einer höheren Instanz in menschlicher Gestalt zu begegnen. Wehmütig erinnert sie sich an die winzige Frau mit den blonden Kurzen Haaren, den leuchtenden blauen Augen und den riesigen Händen.
Der Zug hält an einer unbekannten Station an. Für einige der Gäste bedeutet das auszusteigen. Lichtsignale treffen auf die betreffenden Gestalten.
«Aussteigen!», flüstert ihnen eine Stimme zu.
Mireille muss wieder an die blauen Zonen denken. Es gibt sie überall. Sie sind im ganzen Sonnensystem verteilt. Sie beginnen irgendwo und enden irgendwo. Es existiert kein fester Ort von irgendetwas. Was zählt ist nur die perfekte Ordnung, die exakt bestimmt, was und wer von Ort A nach Ort B gelangt. Alles ist beweglich und dennoch folgt es einem starren System. Als der Zug in der nächsten Station hält, vernimmt sie ganz deutlich eine Stimme, die sie zum Aussteigen auffordert. Sie gehorcht, ohne zu hinterfragen. Nur wenige Menschen begleiten sie nach draussen. Dafür erwartet sie draussen ein riesiger Auflauf von Khakiuniformierten. Die wenigen Reinen, die in ihren schillernden Uniformen leuchten, gehen in der Masse unter.
Es sieht hier genauso aus, wie im Bahnhof, wo Mireille eingestiegen ist. Sie beschliesst sich einfach nur logisch korrekt zu verhalten. Sie folgt den blauen Pfeilen. Selbst ein Durchschnittsbürger mit einem bescheidem Intellekt hätte dieses Prinzip begriffen. Trotzdem existieren noch genügend Dumpfbacken, die hilflos in der Gegend herumirren und von eifrigen Andruiden geleitet werden. Es ist sogar Dankbarkeit in ihren Gesichtern abzulesen.

  
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