Juraj Jascur

Die Familienidylle

Am 9. Juni 1905 erblickt Rahel das Licht der Welt. Umgeben von vier älteren Geschwistern und liebevollen Eltern entwickelt sie sich prächtig. Darüber hinaus erlebt sie viele Impulse, die sie wie ein Schwamm in sich aufsaugt. Grosseltern, Onkels, Tanten und andere interessante Persönlichkeiten beleben durch ihre spontanen Besuche das Haus, in welches sie wohnt.
Die beiden Nachzügler Simon, 13. März 1907, und Thomas, 14. April 1909, sorgen für zusätzliche Reize in ihrem Leben. Nun ist sie nicht mehr die Jüngste, sondern darf ebenfalls in die Rolle einer älteren Schwester wachsen. Mit vier Jahren fühlt sie sich dazu auserkoren ihre Eltern bei der Erziehung der beiden Jüngsten zu unterstützen. Sie spielt ihre Rolle perfekt. Sie gilt als der Stolz der Familie. Mit Ausnahme von Isabel, 13. Januar 1903, beteiligen sich alle an den familiären Aktivitäten. Doch Rahel übertrifft sie alle. Während sich die älteren Kinder gerne von ihren Haushaltspflichten drücken, bemüht sich Rahel stets aufs Neue, ihren Eltern auf die eine oder andere Weise behilflich zu sein. Isabel verkörpert das Gegenteil von Rahel.
Isabel zeigt sich introvertiert, menschenscheu und ihre Interessen sind sehr einseitig gesteuert. Man hat den Eindruck, dass sie mit ihren damals fünf Jahren gar nicht registriert hat, dass die Familie um zwei neue Mitglieder bereichert worden ist. Sie zieht sich gern zurück. Sie kann sich den ganzen Tag lang mit ihren Bauklötzen beschäftigen. Trotzdem schaffen es ihre Familienmitglieder immer wieder sie von Zeit zu Zeit aus ihrer kleinen Welt zu entlocken. Eine Errungenschaft der Technik, die vielleicht irgendein Onkel aus dem Ausland vorbeibringt, genügt schon, um ihre Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Wenn es jemand wagt, in ihr Revier einzudringen, kann sie unerbittlich darum kämpfen. Die zwei kleinsten müssen früh lernen, dass sie sich nicht so ohne weitere Isabel nähern können. Isabel ist gross, lang und sehr knochig. Ihr Gesicht gleicht meist einer ausdruckslosen Maske. Sie zeigt ihre Emotionen auf sehr einseitige Weise. Entweder ist sie zornig oder zufrieden.
Die Familie Nowak und Stuhlmann leben schon seit geraumer Zeit hier in Berlin. Trotz ihrer jüdischen Herkunft und Gesinnung fühlen sie sich als vollwertige Deutsche, welche es zu Ruhm und Ansehen gebracht haben.
Peter Nowak, der Vater von sieben Kindern, darunter auch Rahel, ist einer der Erfolgreichsten in Deutschland. Mit seinem eigenen Unternehmen, das sich sogar auf internationaler Ebene einen Namen im Bereich des Maschinenbaus macht, bringt er es zu Anerkennung und Wohlstand. Dank seines beruflichen Ehrgeizes muss seine Familie nie hungern. Ihre Kinder kommen von Anfang an in den Genuss von Wohlstand. Nebst seinen intellektuellen und praktischen Fähigkeiten, welche ihn soweit im Leben gebracht haben, ist er von schlichtem Gemüt, sanft und Menschen liebend. Trotz seines arbeitsreichen Alltages bemüht er sich darum, stets für eine angenehme Atmosphäre innerhalb der Familie und auch in seiner Umwelt zu sorgen. Darüber hinaus zeigt er sich in seinem Denken sehr fortschrittlich. Trotz seiner bedächtigen und konservativen Haltung gegenüber Neuem ist er ein emanzipierter Mann. Bereits in jungen Jahren befreit er sich von den geschlechtsspezifischen Dogmen. Für ihn gibt es keine Unterschiede zwischen Frau und Mann, was Leistung im intellektuellen oder sozialen Bereich anbelangt. Deshalb fühlt er sich in Berlin so heimisch. Diese Stadt gilt schon als Weltmetropole und repräsentiert die Zivilisation und den Fortschritt. Wie alle Zivilisationen leidet auch Berlin unter grossen Spannungen.
Hin und her gerissen zwischen dem Streben nach Humanität, Wohlstand, Freiheit und Zusammengehörigkeitsgefühl, und Rassendiskriminierungsförderlichem Gedankenguts, folgt Berlin dem Impuls der Marktwirtschaft. Die österreichische Figur Georg von Schönerer prägt mehrere Generationen mit seiner ideologischen Einstellung. Trotzdem vermag sie mit seinen Ansichten nicht einmal an die Grundmauern der Gesellschaft zu kratzen. Sie endet als politischer Aussenseiter und weiss nicht einmal, dass sie einen Anhänger hat, der viele Jahre später seine verzerrten Ideologien erfolgreich in die Welt hinausschreien wird.
Jeden Morgen pflegt die Familie Nowak fürstlich zu speisen. Vater und Mutter sitzen sich gegenüber und die Kinder besetzen nach eigenem Gutdünken die Stühle. Eine Angestellte, Frau Schmidt, eine ältere pummelige Frau, die noch immer auf den Heiratsantrag eines Mannes wartet, verwöhnt die anspruchsvollen Gaumen mit ausgefallenen Speisen, die von üppig salzig bis hin zu leicht gesüsst reichen.
Auch an diesem morgen lässt sich die Familie Toast in geschmolzenem Käse, bedeckt mit Rohschinken und darüber Honig, servieren. Es ist ein sonniger Apriltag. Sie haben noch einen Gast, eines ihrer Onkel, Raffael, der ältere Bruder von Vater. Die Kinder lieben seine Art. Er sprüht voller Ideenkraft und Witz. Er weiss wie man Kinder in seinen Bann reisst. Er hat schon viel von der Welt gesehen und kann sowohl Gross und Klein mit seinen Abendteuergeschichten faszinieren.
«Erzähl uns nochmals von deiner Zeit als Matrose!», fragt Josef, der älteste der Kinder.
Raffael dirigiert als Generaldirektor eine angesehene Bank. Früher verbringt er seine wilden Tage als Matrose. Er beginnt mit seinen Geschichten. Obwohl Josef von seinem Onkel fasziniert ist, weiss er bereits, dass er niemals in dessen Fussstapfen treten würde. Er mag das Leben, aber auf eine andere Art und Weise. Er gleicht eher seinem Vater und strebt nach Harmonie und Frieden. Er erweist sich als exzellenter Schüler, der nicht nur mit intellektuellen Leistungen glänzt, sondern in sozialer Hinsicht stets als perfektes Vorbild dient. Doch er setzte sich niemals unnötig unter Druck. Er ist sich seiner Grenzen stets bewusst und hat damit keine Probleme, dass seine jüngere Schwester Marisha, welche am 1. August 1901 auf die Welt gekommen ist, ihn in den schulischen Fächern sogar übertrumpft. Sie lernt schneller und differenzierter. Sie hat sogar die originelleren Ideen. Das ist schon immer so. Das hindert ihn nicht daran ihren Namen mit Stolz auszusprechen. Sein Selbstbewusstsein leidet nicht im Geringsten darunter, dass sie in seiner Klasse ist und dort die Stellung der Klassenprimus einnimmt.
Alle ausser Isabel sitzen am Tisch und lauschen den Worten ihres geliebten Onkels, Raffaels. Die 7 jährige Isabel sitzt in der hintersten Ecke auf dem Boden, isst und liest gleichzeitig ein Buch über die moderne Kunst der Architektonik. Ihre Familienmitglieder haben gelernt sie so zu akzeptieren, wie sie ist, statt sie unnötig unter Druck zu setzen. Sie in diesem Augenblick anzusprechen wäre sinnlos, denn sie ist zu sehr mit sich und ihrer Welt beschäftigt.
Rahel ergeht es im Grunde nicht viel anders wie sie. Obwohl sie rein äusserlich gesehen das extreme Gegenteil verkörpert, fühlt sie sich ebenso von der Umwelt abgeschnitten. Im Gegensatz zu Isabel fühlt sie eine Leere in sich und versucht durch auffälliges Verhalten dieses innere schwarze Loch zu füllen.
Während alle wie gebannt ruhig da sitzen, um Raffaels Geschichte zu Ende zu hören, verliert sie die Geduld. Sie fällt ihm ins Wort. Sie beginnt mit ihren Erzählungen. Es sprudelt nur so aus ihr heraus. Der liebevolle Onkel lässt sich mit der 5 jährigen Rahel auf einen Dialog ein. Wie üblich steht dieses Mädchen im Mittelpunkt. Sie fängt mit ihrer Show an. Sie tanzt, singt und begeistert das Publikum mit akrobatischen Kunststücken. Das Leben der Familie Nowak hat auch ihre Schattenseiten…
Sandra und Peter werden am 4. September 1912 von der Klassenlehrerin eines ihrer Sprösslinge, Samuels, zu einem Elterngespräch eingeladen. Samuel kommt am 12. Dezember 1902 auf die Welt und fällt nie sonderlich auf, ausser dass er sich immer als ein exzellenter Schüler erweist und sein Betragen den anderen stets zum Vorbild gereicht. Sandra, die Mutter spürt ein ungutes Gefühl in der Magengegend, als sie den Korridor entlanglaufen. Um sich zu beruhigen blickt sie in das zuversichtliche Gesicht ihres Ehegatten, Peters.
«Ich grüsse euch, Frau und Herr Nowak! ».
Die beiden erwidern vorsichtig ihren kühlen Gruss, der ihre innere Ablehnung nicht zu verbergen vermag, und lassen sich in das Klassenzimmer führen. Die Lehrerin kommt gleich zur Sache.
«Euer Sohn ist ein ausgezeichneter Schüler, aber er beginnt Ideologien zu verkünden die nicht ganz dem Geist dieser deutschen Schule entsprechen und wenn ich das so ausdrücken darf, hier in Deutschland nicht angebracht sind!».
Sandra fühlt sich wie vom Blitz getroffen und holt schon bebend vor Zorn Luft, um diese blonde blauäugige Frau der Mitte vierziger verbal zu attackieren. Doch Peter legt nur ganz sanft seine Hand auf ihren Schenkel und entschuldigt sich leise bei der Lehrerin. Seine Stimme ist stets so sanft, hoch und doch sehr bestimmt. Jeder, der ihn hört, kann nicht umhin als seinen Worten zu lauschen.
«Liebe Frau, ich wäre Ihnen sehr dankbar, wenn sie mir offen mitteilen, was ihnen an der Verhaltensweise meines Sohnes missfällt! Worum handelt es sich denn eigentlich?».
Die Lehrerin wird etwas unsicher und beginnt zu stottern. Das hübsche Gesicht von dem
31 jährigen Peter Nowak irritiert sie. Doch sie gibt sich als stolze Frau einen Ruck, um ihre Gedanken auszusprechen, weil sie es ihres Erachtens verdient, von aller Welt gehört zu werden.
«Ich meine, die jüdischen Lehren, die Samuel in letzter Zeit ständig verkündet, die gehören nicht an unserer Schule!».
Wieder setzt Sandra, erfüllt von tiefem Groll und Gekränktheit, erneut an, um ihre Stimme zu erheben. Doch auch dieses Mal kommt ihr Peter zuvor. Er lacht aus vollem Hals und richtet seinen Blick direkt auf die Lehrerin, die sich an seinem Antlitz innerlich verzerrt.
«Ich kann Sie gut verstehen, wenn derartige Äußerungen, die unser geliebter Sohn von sich gibt, stören. Ich möchte auch nicht, dass mir jemand ständig seine Religionsansichten unter die Nase reibt.».
Er macht eine Pause und fährt fort.
«Samuel ist zurzeit in einer schwierigen Phase. Als einziges Mitglied unserer Familie interessiert er sich aus vollem Herzen für unsere Religion!».
Peter lächelt wieder.
«Wir selbst machen uns gar nichts draus. Wir feiern nicht einmal Sabbat. Doch Samuel fragt mich neulich, warum wir denn keinen Sabbat feiern. Was soll ich ihm da antworten? Ich muss mir natürlich genauestens überlegen, was ich einem 9 jährigen Junge sage, ohne dabei in seiner Psyche einen Schaden anzurichten. Ich erkläre ihm unseren Standpunkt, also wie wir als Eltern das betrachten. Wir setzen uns danach alle zusammen, also die ganze Familie. Wir sprechen dann ganz offen über Religionen, die jüdische, christliche, islamische, buddhistische, usw. Dann beeindruckt mich Samuel auf einmal mit seinen klugen Fragen. Mir verschlägt es fast die Sprache. Wir haben einen Sohn, der freiwillig den Talmud liest und sogar tiefere religiöse Zusammenhänge zu verstehen beginnt. Ich unterstütze ihn in seinem Vorhaben, sich eingehender mit den Religionen zu befassen, werde es jedoch nicht versäumen ihn darauf aufmerksam zu machen, dass die Schule nicht dazu dient, religiöses Gedankengut zu verbreiten.».
Peter lacht wieder und wirft einen aufmunternden Blick auf seine Frau, Sandra, welche sich folgende Bemerkung nicht verkneifen kann.
«Sie dürfen eines nicht vergessen, gute Frau! Samuel ist ein Kind. Er bedarf noch immer geistiger Führung. Es ist sein gutes Recht seine Gedanken frei auszusprechen und es ist auch Ihr gutes Recht, sich dagegen zu wehren, von fremden Ansichten zugeschüttet zu werden. Glücklicherweise ist Samuel nur ein Kind, und ein sehr umgängliches noch dazu. Sie als kompetente Lehrkraft dürften bestimmt kein Problem damit haben, ihn auf Ihr Recht aufmerksam zu machen, ohne ihn dabei auf irgendeine Weise zu kompromittieren oder zu verwirren. Das nächste Mal brauchen Sie uns nicht hier her zu zitieren, sondern teilen ihm im Namen von uns beiden mit, dass religiöse Ansichten nicht all zu laut und aufdringlich verkündet werden sollten! Wir werden natürlich auch mit Samuel sprechen!».
Die Lehrerin blickt betroffen auf den Tisch und beisst sich auf die Lippen…
«Das ist ja nicht zu fassen!», schimpft Sandra wütend.
Endlich kann sie ihrem Ärger Luft lassen. Sie hat gewartet, bis sie sich ganz vom Schulgelände entfernt haben. Die Sonne scheint angenehm über ihre Köpfe. Peter schliesst für einen kurzen Moment seine Augen und seufzt.
«Ach, ärgere dich doch nicht, mein wildes Skorpionweibchen!».
«Im Gegensatz zu dir setzte ich mich zur Wehr!», faucht sie ihm an.
Peter geniesst den Sonnenschein und das Knistern der alten Blätter unter seinen Füssen.
«Schau mal, Kleines, es ist viel zu früh für so viele tote Blätter auf dem Boden!».
Sandra schüttelt den Kopf und hakte bei ihm ein.
«Ach vielleicht hast du recht! Ich sollte nicht alles immer zu persönlich nehmen!», bemerkt sie beschwichtigend.
Peter runzelt plötzlich seine Stirn und meint:
«Nein, nein, Lady, du warst im Recht, wir waren im Recht! Ihr Verhalten war nicht korrekt, war unakzeptabel! Wenn sich ihr Verhalten unseres Sohnes gegenüber nicht ändern wird, werde ich das dem Direktor melden müssen!».
Sandra schaut ganz verwirrt zu ihm hoch und blickte in seine sanften Augen. Er schenkt ihr ein liebevolles Lächeln.
«Aber, eben gerade sagtest du, ich…».
«Nein, nein, Sandra, du hast mit allem Recht, aber du solltest dich nicht unnötig aufregen! Ich halte Diskussionen, die zu nichts führen für sinnlos.».
«Stell dir vor, ich fühlte mich für einen Augenblick in meine Kindheit zurückversetzt, als ich ständig Angst hatte, dass man mich in der Schule bestrafen könnte. Einmal erhielt ich sogar wegen eines Aufsatzes einen schriftlichen Verweis.».
Peters Augen sind immer noch voller Güte und Weisheit.
«Der Direktor ist rein zufällig ein guter Freund von mir. Ich weiss, wie ich mit dieser Situation umzugehen habe. Du kannst mir in der Hinsicht vertrauen!».
Er holt tief Luft und fragt:
«Worum ging es denn in deinem Aufsatz?».
«Es ging um Jesus! Ich beschrieb ihn in meinem Aufsatz als einen Menschen aus Fleisch und Blut, der einfach über aussergewöhnliche Fähigkeiten verfügte.».
Peter muss lachen.
«Oh, mein Kind, Jesus anzuzweifeln gilt bei vielen Christen als reinste Blasphemie! - und bei einem Jude werden derartige Aussagen erst recht streng beurteilt!»…
Samuel schreibt weiterhin exzellente Noten und zeigt sich auch sonst immer von der besten Seite. Doch sein Bedürfnis sich eingehender mit der jüdischen Religion auseinander zusetzen bleibt bestehen. Er zieht es vor, sich in der Schule mit seinen Äußerungen zurückzuhalten. Umso reizvoller werden für ihn die täglichen Studien des Talmuds. Bald stellt er fest, dass Religion mehr bedeutet als das befolgen von Riten und Dogmen. Je mehr er sich mit den religiösen Gesetzen des Judentums auseinandersetzt, desto mehr gelangt er zu der Überzeugung, dass die Religionen nur den Zweck darstellen, Menschen geistig zu führen. Mit 12 Jahren befreit er sich von der Meinung vieler seiner Glaubensgenossen, dass nur eine Religion als die einzig Richtige und Wahre zu gelten habe. Er zählt sich zu den wenigen Menschen, die frei denken und sich nicht von Regeln abhängig fühlen. Denn in seinen Augen verfolgen sie im Grunde nur einen bestimmten Zweck. Er ist der festen Überzeugung, dass nur auf diese Weise Menschen den Zugang in die spirituelle Welt finden. Seiner Ansicht nach dienen Religionen nur als Sprungbrett, um sich geistig weiterzuentwickeln. Also entschliesst er sich dazu, sich auf seine Berufung als Rabbiner vorzubereiten. Seit einem Jahr praktiziert er den Sabbat und das als einziger in seiner Familie. Doch er hegt keinen Groll für seine ach so modernen Eltern und Geschwister. Denn jeder hat die Möglichkeit zu wählen, ohne dabei in die Hölle enden zu müssen. Der Himmel für die Familie Nowak verdüstert sich…
Was als Lokalkrieg zwischen Österreich-Ungarn und dem Königreich Serbien anfängt, mündet in einen weltweiten Krieg, dessen Dimensionen die Vorstellungskraft der Menschen bei weitem übersteigt und sich nicht mit den romantischen Bildern des Krieges, welches sich in vielen Männerköpfen gebildet hat, vereinbaren lassen. Denn in diesem Krieg ist nicht Heldentum, sondern Durchhaltevermögen und Ignoranz gefragt, um als Soldat bestehen zu können. Die Welt steht auf dem Kopf. Schwächliche Männer ohne Rückgrat überleben den Krieg, ohne dabei seelischen Schaden davon zu tragen und kampftüchtige Helden kehren als seelische Krüppel in das normale Zivilleben zurück. Vielleicht liegt es daran, dass ein allzu grosses Herz verwundbar macht. Keiner der Familie Nowak hält es für sinnvoll, sich einer derartigen Herausforderung zu stellen. Bei der Familie Stuhlmann gibt es einen, der sich zum trotz seines Vaters und seines älteren Bruders bei der Armee meldet.
Ausser Thomas, der Jüngste in der Familie Nowak, distanzieren sich seine sechs älteren Geschwister bewusst von diesem Schauplatz des Grauens. Josef, der allmählich zu einem Mann heranreift, und regelmässig die Zeitung liest, ist natürlich, was die täglichen Berichte über den Krieg betreffen, stets auf dem Laufenden. Dank seiner politischen Kenntnisse erkennt er die Zusammenhänge und kommentiert gelegentlich die tragischen Zwischenfälle aus einem grösseren Blickwinkel heraus. Auch Marisha lässt keine Gelegenheit aus, sich genauestens über die momentanen Innen- und Außenpolitischen Verhältnisse zu informieren. Doch ihr Beweggrund entspringt dem unverbesserlichen Konkurrenzdenken, ihren älteren Bruder stets zu übertrumpfen. Umso mehr ärgert es sie, dass er sich jedoch nie von ihr aus der Fassung bringen lässt. Wenn sie glaubt, dass sie ihn klein gekriegt hätte, belehrt er sie ganz ruhig und gelassen eines Besseren. Er bringt sie dann mit einem sachlichen Argument zum Schweigen.
Für alle gilt es als unumstößliche Tatsache, dass Marisha ein lebendiges Wunder an Wissen und genialen Gedanken darstellt. Ihre Eltern, erfüllt von unendlichem Stolz auf ihre geistige Überfliegerin, wundern sich, warum sie sich nach all den Jahren immer noch als Widersacherin ihres ältesten Bruders, Josefs, betrachtet. Josef dagegen, wie es nicht anders zu erwarten ist, hat es nicht nötig, sich über Misserfolge zu ärgern. Er entpuppt sich als Realist und Pragmatiker, der von sich aus, bei den Geschwistern eine väterliche Rolle übernimmt. Dabei ist es ihm nicht einmal bewusst, dass er Marisha von Anfang mit seiner dominanten Haltung verärgert. Er meint es nur gut mit ihr. Für Marisha bedeutet es einen Sieg gegen Josef, als sie zur selben Zeit eingeschult wird wie er. Sie ist es, die es durchgeboxt hat, früher eingeschult zu werden. Bald schon fühlt sie sich in ihrer Rolle als Kämpferin gegen ihren Widersacher bestätigt, als sie ihn auch in den schulischen Fächern zu übertrumpfen beginnt. Umso mehr ärgert es sie, dass sich seine Haltung ihr gegenüber nicht ändert. Er verhält sich ihr gegenüber nach wie vor, wie der ältere Bruder, der seine kleine Schwester bevormundet: «Tu dies nicht!» oder «Lass doch die Jüngeren damit spielen!», usw. Er lobt sie sogar noch häufig wegen ihren Leistungen. Das ärgert sie dann umso mehr.
Samuel indessen bereitet sich auf die Bar Wizma vor. Ein Jahr zuvor schafft er es, seine Eltern dazu zu überreden, dass er sich beschneiden lassen darf. Er erträgt den Schmerz wie ein Mann. Voller Stolz lässt er diese Zeremonie ohne Narkose über sich ergehen. Der Krieg gilt für ihn als primitive Barbarei. Er weiss darüber nicht mehr, als das, was er in der Schule lernt.
Isabel, für die der erste Weltkrieg nichts weiter als zusätzlichen Schulstoff bedeutet, wehrt sich gegen eine konventionelle Lehrmethode. Sie erhält als einzige aller Kinder Privatunterricht. Als man es bei ihr mit einer normalen Schule versucht, weigert sie sich am Unterricht teilzunehmen. Sie lässt niemand an sich heran, weder Kinder noch Lehrer. Die Eltern beschliessen deshalb, sie zu Hause zu unterrichten. Aufgrund ihres schwierigen Verhaltens finden sie niemand, der sie unterrichtet. Deshalb unterrichten die Eltern ihr schwieriges Kind. Wenn es in seltenen Fällen einem der Onkels, Tanten, oder Grosseltern gelingt, Zugang zu ihr zu finden, freuen sich natürlich Peter und Sandra über jeden neuen wertvollen Impuls, den Isabel erhält. Sie ist nicht dumm, im Gegenteil, ihre geistigen Fähigkeiten sind aussergewöhnlich. Doch ihre Interessen gelten als sehr begrenzt. Nur mit Mühe lässt sie sich dazu bewegen, sich ausserhalb der Welt der Naturwissenschaften geistig zu betätigen.
Peter hat herausgefunden, wie man sie dazu überredet, all das zu lernen, was ein Mensch benötigt, um später einmal im Leben erfolgreich bestehen zu können. Dabei stellt sie sich alles andere als ungeschickt dar. Ihre Eltern bestehen darauf, dass sie dieselben Fächer lernt wie ihre Geschwister und in keinster Weise um irgendein Lerngebiet kommt. Für die Familie Nowak gilt es als selbstverständlich, dass Isabel die Fächer Französisch, Englisch, Latein Hebräisch, Griechisch, Geschichte, Kunstgeschichte, Geographie und Musik genauso beherrscht, wie Mathematik, Physik, Biologie und Chemie.
Das Lernen basiert bei ihr auf dem einfachen Prinzip des Interesses oder Desinteresse. Sobald ihr das Interesse für ein Gebiet fehlt, braucht sie einen Anreiz Seitens ihrer Eltern in Form eines Leistungs-Belohnungssystem. Belohnung hat für Isabel eine ganz spezielle Bedeutung. Weder ein gutes Essen, noch Geld oder sonstige materielle Freuden gelten als Entschädigung für ihr Abmühen in Fächern, welche sie langweilen. Sobald nämlich Isabel ihre Pflicht erfüllt hat, bekommt sie von ihren Eltern die Erlaubnis sich mit Architektur zu beschäftigen. Gebäude, Häuser, Umrisse, Kanalisationen, etc., das alles fesselt ihren Geist.
Mathematik und Physik vertiefen ihr Verständnis für komplexe Bauten. Biologie und Chemie gelten für sie als angenehme Nebenbeschäftigung – mehr nicht. Manchmal schliesst sie ihre Augen und stellt sich vor, wie sich Menschen gegenseitig niedermetzeln, um dann erschreckt ihre Augen wieder aufzureissen und sich der Architektur zu widmen.
Rahel gilt als eine Ausnahmeerscheinung in der Familie. Sie bricht jede Grenze, die man sich nur vorstellen kann. Sie übertrifft sogar bei weitem die geistigen Fähigkeiten von Marisha. Dabei strengt sie sich noch nicht einmal an. Mit erschreckender Leichtigkeit wagt sie sich an schwierige Themen heran, an welche sich ihre älteren Geschwister ihre Köpfe zerbrechen. Ob nun Politik, Naturwissenschaften, Kunst oder Alltagsfragen, überall erweist sie sich als kleine Expertin. Sie nach zu eifern, macht keinen Sinn. Sogar Marisha begnügt sich damit, ihren grossen Bruder zu übertrumpfen. Den Verlauf des ersten Weltkrieges verfolgt Rahel mit kindlicher Neugierde. Mühelos merkt sie sich Zahlen, Namen und unzählige von Daten im Zusammenhang des Krieges.
Simon, das Sensibelchen in der Familie, kann oft nachts nicht einschlafen. Allein die Vorstellung, dass Krieg herrscht, verängstigt ihn zutiefst. Er kann es nicht verstehen, mit welcher Faszination sein kleinster Bruder Thomas die Kriegsberichte liest. Viel lieber flüchtet er sich in seine Märchen, Erzählungen, Gedichte und der Musik. Thomas, der fest davon überzeugt ist, dass die Deutschen siegen werden, fühlt sich dazu auserkoren, später einmal als Held für das Vaterland zu kämpfen. Umso enttäuschter ist er, dass sich sein ältester Bruder, Josef, von dem Krieg distanziert. Er hätte nämlich erwartet, dass er sich der männlichen Aufgabe stellen würde, sein Leben für das Vaterland zu riskieren. Stattdessen konzentriert er sich nur auf seine berufliche Karriere. Thomas lässt keine Gelegenheit aus, Josef und seinesgleichen für das Scheitern Deutschlands verantwortlich zu machen. Doch seine ständigen Vorwürfe, das deutsche Vaterland im Stich gelassen zu haben, prallen an seinen grossen Bruder ab. Wie ihr Vater zeigt auch er viel Verständnis für die durch den Krieg aufgewühlten Emotionen des noch sehr jungen und unerfahrenen Thomas.
«Wenn du gross bist, wirst du verstehen, dass nicht alles nur in schwarz und weiss aufgeteilt werden darf.».
Die liebevollen Worte von Josef hallen noch immer in Thomas Ohr. Er kann noch nicht nachvollziehen, dass es in diesem Krieg nicht um den Kampf zwischen Gut und Böse geht, sondern um Expansion, Machterweiterung, Diplomatie, Vertuschen der Wahrheit. Der Heldentum, so wie er es von den Sagen aus der Schule her kennt, sind hier fehl am Platz…
Thomas veränderte sich seit Kriegsende. Er ist nicht mehr der fröhliche Junge, der alles sportlich und gelassen hinnimmt. Er zieht sich von seinen jüdischen Familienmitgliedern immer mehr zurück und verkehrt die meiste Zeit draussen. Er trifft sich mit anderen Jungs, weil er denkt, endlich Seelenverwandte gefunden zu haben. In dunklen Kellern tauschen sie wilde Gedanken aus, treiben Sport, eignen sich Kampftechniken an und schreien ihre Parolen aus. Anfangs bilden sie eine übersichtliche Clique von ca. 10 Jungs, welche von Thomas geführt wird. Bereits im Jahre 1925, also knapp ein Jahr nach der ersten Besammlung, zählt sie schon über 40 Mitglieder. Es hat sich viel geändert. Die Parolen werden immer verworrener und es mischten sich Elemente im Gedankengut der Köpfe, welche vom wahren Weg, nämlich für die Gerechtigkeit zu kämpfen, immer mehr abweichen.
Thomas soll nun seine letzte Rede halten. Er steht vor ihnen. Der Saal ist gefüllt von verschwitzten muskulösen Körpern. Er blickt in einige ihrer Gesichter. In Kürze werden sie erfahren, dass er sie verlassen wird und sie sich einen neuen Führer suchen müssen…
Es ist nicht lange her, da streift er allein verbittert durch die dunklen Gassen. Manchmal gerät er in Schlägereien, wo er stets als Sieger hervorkommt. Er braucht das, um sich zu spüren – fern von seinen schöngeistigen Geschwistern, Eltern, usw. Bald macht er sich einen Namen als der Retter in Not. Denn er lässt keine Gelegenheit aus, sich um die Schwächeren zu kümmern. Von Anfang an besitzt er eine Antenne für Situationen, wo seine Person gefragt ist. Viele suchen Schutz bei ihm. Er nutzt diese Chance seines Lebens, um seine Gruppe ins Leben zu rufen. Das sind ausgesuchte Jungs, die, so glaubt er, seinen Erwartungen entsprechen…
Doch in diesem Augenblick, wo er in ihre Gesichter blickt, erkennt er sie fast nicht mehr wieder. Dieselben Leute, welche voller Stolz mit ihm zusammen in gefährliche Gassen ziehen, um Betagte, Behinderte oder einfach Schwache zu beschützen, beginnen sich mit den Neuen zu vermischen, welche neue Ideen in die Gruppe bringen. Parolen wie «Schutz für die Schwachen», «Nehmt Rücksicht auf die Gebrechliche», etc. weichen neuen fremdartigen Schlagworten, die jedoch älter sind, als er vermutet hätte.
Im Raum riecht es nach Aggressivität, Zerstörungsgeilheit und Vergeltungssucht. Er schliesst seine Augen, um mit seiner Rede anzufangen. In diesem Moment verspürt er eine Leichtigkeit in seinem Innern, wie er sie noch nie zuvor in seinem Leben verspürt hat. Als er seine Augen wieder öffnet, wagt er es endlich der absoluten Wahrheit ins Gesicht zu blicken. Es fällt ihm nicht schwer sich von den anderen zu verabschieden. Es erstaunt ihn nicht einmal, dass es für die meisten keine Rolle spielt, ob er sie verlässt oder nicht. Erst als er offen von seiner Herkunft zu sprechen beginnt, verändern sich die Mienen der Zuhörer. In ihren Blicken kann er mit aller Deutlichkeit Enttäuschung und Verachtung ablesen. Doch niemand wagt es ihren ehemaligen starken Anführer in irgendeiner Form anzugreifen. Thomas gilt als harter Anführer, der kein Pardon kennt. Er verlangt Disziplin und bedingungslose Opferbereitschaft. Sie alle fühlen tiefe Erleichterung, als er mit erhobenem Haupte den Raum verlässt. Selbst dann wagt es niemand eine abfällige Bemerkung über seine Person zu machen. Seine Präsenz spüren sie immer noch im Raum.
Als Thomas nach draussen stürmt, erscheint ihm der heisse Juliwind im Vergleich zu der Hölle im Keller unten, wo er seine Rede gehalten hat, direkt erfrischend. Deutschland, so wie er es bisher gekannt hat, existiert nicht mehr für ihn. Er liebt nach wie vor sein Land und die Leute, welche darin wohnen, aber die Welt da draussen hat sich geändert und mit ihr auch sein geliebtes Deutschland. Die nationalen Grenzen verschwimmen. Neue unsichtbare Grenzen zeichnen sich immer deutlicher ab. Es geht nicht mehr um die Frage, ob man Deutscher oder nicht Deutscher ist. Der fünfzehnjährige Thomas erlebt sich selbst als Mitglied einer gespaltenen Gesellschaft, welche sich nach aussen hin immer noch als intakte Einheit zeigt. In den letzten Monaten ringt er mit sich selbst, weil er nicht wahrhaben will, dass er sich nicht mehr hinter seinem Nationalgefühl verstecken kann.
«Ich bin ein menschliches Individuum ungeachtet meiner Herkunft, Nationalität und Bildung! Ich verspüre einzig den Drang, mich für die Freiheit und der Gerechtigkeit einzusetzen!».
Am liebsten hätte er vor Freude losgeheult. Nun kann er sich endlich auf sein grosses Ziel vorbereiten. Er muss unbedingt sein Profil schärfen. Mit eiserner Selbstdisziplin lernt er fleissig für die Schule. Der ohnehin schon Klassenbester brilliert nun auf dem Gymnasium wie ein Stern in der Dunkelheit. Im Sport fällt er durch seine Geschicklichkeit, Ausdauer und Kraft aus. Er berauscht allein schon mit seiner imposanten Erscheinung. Er überragt seine Altergenossen um ein bis zwei Köpfe. Sein athletischer Körper gleicht den griechischen Skulpturen, welche Götter darstellen. Er gilt als die Zierde der deutschen Jugend, welche Intelligenz, Kraft und Moral vereinigt. In seiner Freizeit nimmt er an typisch Deutschen Aktivitäten teil. Er erhält viele Auszeichnungen, welche ihm für seine militärische Laufbahn zum Vorteil gereichen sollte. Im Jahre 1926 erhält er als Jahrgangsbester sein Abitur. Man überhäuft ihn mit Lob. Mit ihm geht eine lange Nowak-Ära zu Ende. Mit Ausnahme von Isabel haben all seine älteren Geschwister dasselbe Gymnasium besucht und dem Namen Nowak alle Ehren gemacht. Thomas verliert keine Zeit, um sich beim Militär zu melden. Er brennt darauf so schnell wie möglich seine militärische Ausbildung zu beginnen…
Rahel indessen verfolgt keine wirklichen Ziele. Sie begnügt sich damit, ihrem Leben mit dem Bewältigen von Alltagssituationen einen Sinn zu geben. Nachdem sie ihren Doktor in Mathematik geschrieben hat, das ist im Jahre 1921, glaubt sie endlich ihre Berufung gefunden zu haben. Sie startet ernsthaft eine Karriere als Entertainerin. Dank ihres exotischen Aussehens bieten sich ihr viele Möglichkeiten als Schauspielerin und Tänzerin einzusteigen.
Inzwischen sind 5 Jahre vergangen seit ihrem von Euphorie erfüllten Entscheid als Entertainerin ihr Glück zu versuchen und sie muss die Erkenntnis verarbeiten, dass ihr das Herzblut für die Schauspielerei fehlt. Diese Erkenntnis ist hart. Zeit ihres Lebens unterhält sie Menschen durch ihren Charme, Witz, Tanz und Ausdruck. Sich mit der Erkenntnis zu konfrontieren, dass sie all die Zeit über innerlich leer ist und einer Maschine ähnelt, die im richtigen Moment die richtigen Emotionen vorspielen kann, fällt ihr verdammt schwer.
Sie gehört eher zu dem Typ von Mensch, der sich ablenken muss. Meist befasst sie sich dann mit etwas Sachlichem. Sich mit ihrer finanziellen Situation zu beschäftigen, fällt ihr wesentlicher leichter, weil man dabei nicht emotional beteiligt zu sein hat. Nüchtern und ohne Hast kreiert sie Tag für Tag neue Strategien, um ihr verrücktes Leben zu finanzieren. Ihr Stolz erlaubt es ihr nicht, ihre Eltern um Almosen zu bitten.
Für eine Frau wie Rahel bieten sich viele Gelegenheiten, um sich nützlich zu machen. Wenn sie nicht gerade Nachhilfestunden für reiche Studenten oder Gymnasiasten gibt, beglückt sie das Publikum mit kleinen Showeinlagen. Sie kennt viele jüdische Familienbetriebe für die sie die Buchhaltung macht. Man weiss ihre klugen Ratschläge zu würdigen. Nur dank ihres Geschäftssinnes schaffen es viele Geschäfte überhaupt zu überleben. Denn Rahel erledigt ihre Arbeit stets gewissenhaft und mit viel Voraussicht.
Es gibt aber viele Männer, welche sich für diese viel versprechende Exotin sexuell interessieren. Sie führt ein interessantes Leben. Doch sie nimmt es gar nicht richtig wahr. Je mehr Zerstreuung sie findet, desto hohler fühlt sie sich innerlich. Sie wird sogar mit einigen ihrer Verehrer intim. Doch nicht einmal das erfüllt sie. Sex bedeutet für sie lediglich ein mechanischer Prozess, um überschüssige Energie abzubauen.
Das Gefühl des Enttäuscht sein ist ihr gänzlich fremd. Sie fühlt sich weder als gescheiterte Schauspielerin, noch als mittellose junge Frau ohne Mann und Kind. Im Grunde ist ihr Leben sehr einfach. Sie folgt den geistigen Reizen, löst die Alltagsprobleme rationell und ökonomisch und entwickelt sich zu einer Meisterin des Zeitmanagements. Die einzige Angst, die sie quält, ist es, vor einem grossen Nichts zu stehen und nicht zu wissen, welchen Schritt sie als nächsten gehen muss.
Im Grunde ist ihr Leben durchorganisiert und strukturiert. Dank ihrer perfekten Zeiteinteilung hat sie viele Leerläufe einkalkuliert. Die vielen Blind Dates und Rendezvous sollten ihre Löcher im Leben füllen. Doch diese dunklen Löcher existieren trotzdem. Sie begleiten sie Tag für Tag. Sie bereiten ihr sogar schlaflose Nächte. Wenn sie einige ihrer Geschwister aufsuchen, um sich ihr mitzuteilen, weiss sie stets, was sie zu sagen hat. Man schätzt ihre Gegenwart, man schätzt ihre Anteilnahme, welche jedoch nur gespielt ist, und man schätzte ihre klugen Ratschläge.
Thomas macht es ihr als einziger schwer. Er scheint sie tatsächlich durchschaut zu haben. Einmal hat sie mit ihm einen kleinen Disput zur Militär- und Judenfrage. Als Rahel versucht Thomas über seine reellen Berufschancen im Militär aufzuklären, erhält sie nur eine abfällige Bemerkung über ihre zu recht geschneiderten Lebensweisheiten.
«Du lebst nicht wirklich! Du bist nur damit beschäftigt, Informationen zu sammeln, zu filtern und sie für die sachgerechte Bewältigung von Lebensaufgaben einzusetzen.».
Darauf fehlt ihr eine Antwort. Denn tief in ihrem Innern weiss sie, dass er Recht hat. Da sie nicht wirklich am Leben ihrer Mitmenschen teilnimmt, kümmert es sie im Grunde überhaupt nicht, ob Thomas wegen seiner Herkunft vom Militär akzeptiert wird oder nicht. Ein paar Monate später erkennt sie, dass er auf ihre Ratschläge wirklich nicht angewiesen ist. Denn bald merkt er von alleine, dass er sich weder mit den Stahlhelmen, noch mit den aufkommenden SS-Einheiten identifizieren kann. Obwohl sein Herz immer noch für das Vaterland schlägt, registriert er die neuen aufkommenden Bewegungen, die alles in ihren Bann zu ziehen drohen.
Statt ein Studium im Angriff zu nehmen, ruft er eine kleine Gruppe von anders denkenden Menschen ins Leben, die wie er für die wahren Werte des Lebens kämpfen wollen. In seiner neuen Einheit zählt er auch viele Juden. Doch das ist nicht der springende Punkt. In seiner Gruppe fühlt er sich wieder in seine Zeit zurückversetzt, als er als kleiner Junge von einem Leben als Held und Freiheitskämpfer träumt. Er gilt als der Anführer von Männern mit den unterschiedlichsten Charakteren. Ob Slawen, Juden, Deutsche, Linksorientierte, oder einfach nur Träumer, sie alle vereinen sich, um auf ihren Held, Thomas Nowak zu hören. Unter ihnen gibt es einen 2m langen Kerl, dessen Körper beharrt ist wie der von einem Affen. Sein winziger Schädel steht in einem erschreckenden Missverhältnis zu seinen gigantisch breiten Schultern. Seine grossen grünen Augen funkeln vor Kampfeslust. Der polnische Jude fällt wegen seinem starken Akzent beim Sprechen auf.
Sie nennen sich selbst Krieger der Gerechtigkeit und Freiheit. Sie leben in einer riesigen Baracke. Keiner von ihnen hat einen festen Job. Doch niemand kann behaupten, dass sie auf der faulen Haut liegen. Mit Gelegenheitsjobs finanzieren sie ihr einfaches Leben. Sie legen ihr Geld in eine gemeinsame Kasse und kaufen in grossen Mengen billig ein. Täglich quälen sie ihre Körper durch harte Leibesübungen, trainieren ihre Gehirne durch knifflige Denksportspiele und verfeinern tagtäglich ihre Kampftechniken.
Sein Vater hat vollstes Verständnis für seinen Lebensstil zu jener Zeit. Er weiss, dass eine Person wie Thomas sich nur schwer mit dem damaligen Zeitgeist anfreunden kann. Statt ihn daran zu erinnern, dass er sich für eine solide Berufsausbildung entscheiden soll, lässt er ihn in seinen Entscheidungen die nötige Freiheit, die er benötigt.
Thomas ist zu stolz, als dass er seine Eltern um Almosen bitten würde. Mit 18 zieht er bereits aus und distanzierte sich bewusst von seiner Familie.
Simon, sein zwei Jahre älterer Bruder hat es noch nicht so eilig mit dem Flügge werden. Stattdessen konzentriert er sich auf die Musik, Literatur und dem Malen. Er liebt es, sich in seinen Phantasiewelten zu verlieren, um verrückte Geschichten zusammen zu spinnen, oder neue Klänge in der Musik zu erfinden oder die düstere Zeit auf Bildern festzuhalten. Trotz seiner verträumten Art fehlt es ihm nicht an Disziplin. Tagtäglich erfüllt er sein Programm, um die hohen Anforderungen des Konservatoriums zu erfüllen. Natürlich brilliert er in allen Bereichen der Musik. Ihm liegen sowohl das Komponieren, wie auch die Spieltechnik. Er gilt bereits mit seinen 20 Jahren als Klaviervirtuose und begeistert ein grosses Publikum mit seinen Meisterwerken. Es ist kaum zu glauben, dass er mit zehn Jahren noch nie auf dem Klavier gespielt hat. Er hat es durchgesetzt, dass ihm seine Eltern zu seinem 12ten Geburtstag ein Klavier kaufen. Sie haben es niemals für nötig gehalten ihn unterrichten zu lassen. Er bringt sich alles selbst bei. Bereits zwei Jahre später komponiert er schon einfache Stücke und mit 18 wird er ins Konservatorium aufgenommen. Er führt ein sehr zurückgezogenes Leben und hat im Gegensatz zu seinem jüngeren Bruder Thomas noch keine sexuellen Erfahrungen mit den Frauen gemacht.
Die politische Entwicklung in Deutschland, insbesondere in seiner Heimatstadt verfolgt er mit Abscheu. Ihm fehlt die klare Vorstellung von sich, seiner Nationalität und seiner Herkunft. Er hat sich nie wie ein Deutscher gefühlt, hat jedoch auch nie den Drang verspürt sich mit dem jüdischen Volk zu identifizieren. Während sein Bruder Samuel seine ersten Erfahrungen als Rabbiner sammelt, Thomas die blutige Bandenkämpfe auf der Strasse ausfechtet, Rahel irgendwelche jüdische Firmen steuertechnisch unterstützt oder in den Berlinerstrasse ihr Tanzbein schwingt, Isabel die ersten Preise als angehende Architektin holt, Marisha sich bis zur Elite der deutschen Anwälte emporarbeitet und Josef eine Tochterfirma von Vaters Unternehmen gründet, lebt er in der ständigen Angst, dass jemand seine kleine Welt zerstören könnte.
Mit Ausnahme von Thomas vermitteln ihm seine Geschwister, seine Eltern und weitere Verwandten das Gefühl von einer heilen Welt. Josef gilt in seinen Augen als der klassische Unternehmer, Marisha als die Staranwältin, Samuel als der liebevolle Rabbiner mit Bart, Isabel als die Menschenscheue, welche geniale Gebäuden und raffinierte Kanalisationen baut, Rahel als wahre Lebenskünstlerin und sich selbst als derjenige, der das Leben eines verträumten Künstlers führt. Zusammen gehören sie einer stetig schrumpfenden Welt fern von Antisemitismus, Rassenwahn und radikalen politischen Umwälzungen. Thomas hat Simons kleine Welt schon längstens verlassen. Er schlägt sich mit Ariern, mit den Rechten und anderen Gegnern seiner Ideen. Er erinnert ihn stets an die Gefahren, welche auf ihn und seinesgleichen lauern. Wenn er nachts, immer noch beschwingt von einer klassischen Oper, nach Hause kehrt, ignoriert er bewusst die fremden bedrohlich wirkenden Gestalten, welche er in den dunklen Gassen begegnet.

  
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