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Helfen – zwischen Ehrenamt und bezahlter Arbeit

Ist Hilfe etwas, das sich nur Wohlhabende leisten können? Und wer darf vom Helfen leben? Eine Migrationsgeschichte, die alle Seiten des Helfens berührt.
Autor/innen: Vive Chellathuray / Claudia Studer

Datum: 14. September 2001

Vive ist 1985 aus Sri Lanka in die Schweiz geflüchtet. Er gehörte somit zu den ersten, die auf der Flucht vor dem Bürgerkrieg in Sri Lanka in der Schweiz Asyl suchten. Er war damals 40 Jahre alt, beruflich erfolgreich und Familienvater. Seine Frau und die beiden kleinen Kinder blieben in Colombo zurück. Die meisten anderen Tamilen, die damals in die Schweiz flüchteten waren bedeutend jünger und ungebunden. Im Gegensatz zu den jüngeren Mit-Flüchtlingen sprach Vive ausgezeichnet Englisch, da seine Generation Schule und Ausbildung noch in der Sprache des ehemaligen Kolonialisators absolviert hatte.

In der Schweiz wurde Vive sehr schnell von einem der Hilfe empfängt zu einem der anderen hilft:

„Der Anfang in der Schweiz war sehr schwierig. Wir durften nicht arbeiten und die Sprache war mir ganz fremd. Dass ich in die Schweiz kam, war ein Zufall. Das Rote Kreuz hat einen sehr guten Ruf bei uns, das war wohl der Grund. Eigentlich hatte ich vor, später in einem englischsprachigen Land zu leben. In Grossbritannien wäre sogar meine Ausbildung (Factory Manager) anerkannt gewesen. Es gab damals noch kein Lagersystem für Flüchtlinge. Ich wohnte mit zwei Kollegen in einem Privatzimmer. Die Miete war 300 Franken für jeden! Das Fürsorgeamt bezahlte.(Anmerkung C.St.: und die Asylbewerber bezahlten später mittels Asylabzug wieder jeden Franken zurück). Wir hatten aber Glück. Schweizer und Schweizerinnen hatten für uns eine Hilfsorganisation gegründet, die Freiplatzaktion1. Ich lernte dann recht schnell Deutsch, und konnte mich auch dank meiner guten Englisch-Kenntnisse mit vielen Schweizer/innen unterhalten. Als das Arbeitsverbot vorbei war, halfen uns die Leute vom Hilfswerk auch bei der Arbeitssuche. Für mich suchten sie nach einer Stelle in einer Druckerei. Vor meiner Flucht war ich Druckereileiter bei der grössten Tageszeitung Sri Lankas. Die Leute von der Freiplatzaktion konnten mir eine Arbeit als Zeitungsverträger vermitteln... mehr lag vor allem wegen meiner Bewilligung nicht drin. Niemand will in einen Asylbewerber investieren, weil man halt nie weiss, ob man das Land nicht ganz schnell wieder verlassen muss.

Bald darauf hatte ich meine ersten Kontakte zum HEKS. Inzwischen war man nämlich vom System mit den Privatzimmern abgekommen und die neuen Flüchtlinge kamen in Unterkünfte, in denen sie nur schlafen und essen durften. Wenn das Wetter schön war, waren sie dann tagsüber auf den Strassen, bei schlechtem Wetter fuhren sie den ganzen Tag Tram. Das gab ein schlechtes Bild in der Öffentlichkeit. Das HEKS hat dann viele Veranstaltungen organisiert, an welchen ich über die Situation in Sri Lanka, unsere Probleme und unsere Kultur gesprochen habe. Ich habe an unzähligen solchen Begegnungen teilgenommen, in Kirchen, Schulen und Gemeinden.

Wegen meiner guten Englisch-Kenntnisse fand ich auch eine bessere Arbeit. Ich bekam eine feste Stelle am Buffet in einem Hotel. Das war wahrscheinlich die beste Stelle, die damals ein Tamile bekommen hatte. Alle anderen arbeiteten als Küchenhilfen. In der Freizeit war ich immer beschäftigt. Ich verbesserte meine Deutschkenntnisse und da ich schon gut Bescheid wusste, wie die Sachen in der Schweiz funktionieren, habe ich immer öfter andere Flüchtlinge begleitet. Ich half ihnen, Alltagsprobleme zu lösen, begleitete sie zur Polizei oder zu anderen Behörden. Bei dieser Arbeit habe ich auch viele engagierte Schweizerinnen und Schweizer kennengelernt. Ich war gut bekannt, bei allen, die mit Flüchtlingen zu tun hatten.

Eine feste Stelle als Asylbetreuer

Anfangs der neunziger Jahre hiess es plötzlich, dass die Gemeinde Reinach einen tamilischen Betreuer und Dolmetscher brauche. Ich bekam Empfehlungen von HEKS, Freiplatzaktion und Kirchenleuten, und so bekam ich die Stelle. Ich war an diesem Arbeitsplatz sehr glücklich. Zuerst habe ich Tamilen betreut, später Flüchtlinge aus allen möglichen Ländern. Ich habe ihnen bei der Arbeitssuche geholfen, bei der Wohnungssuche, habe ihnen das Asylrecht erklärt, sie zum Arzt begleitet, oder auf Behördengängen. Es hat mir grosse Freude gemacht, mit Menschen so vieler verschiedener Nationalitäten zusammenzuarbeiten. Die Gemeinde hatte auch ein Gesuch für eine B-Bewilligung gestellt, die war nämlich Voraussetzung für diese Stelle. Ich hatte also eine sichere Bewilligung und eine Arbeit die mir Freude machte.

Zu diesem Zeitpunkt habe ich beschlossen, dass ich für mich und meine Familie eine Zukunft in der Schweiz aufbauen will. Bisher habe ich immer noch die Weiterreise in ein englischsprachiges Land in Betracht gezogen. Doch nun fühlte ich mich in der Schweiz wohl und sah eine Perspektive. 1993 kam meine Familie in die Schweiz.

Während sieben Jahren habe ich in Reinach gearbeitet, dann verlor ich die Stelle. Es wurde umstrukturiert und viele vom alten Team mussten gehen. Seither habe ich keine feste Stelle mehr gefunden. Während dem Kosovo-Krieg hatte ich für kurze Zeit Arbeit in der Notunterkunft für die Flüchtlinge. Ich wünsche mir, dass ich wieder eine Stelle finde wie in Reinach, an welcher ich mit Menschen zusammenarbeiten und mein Wissen weitergeben kann.

Seither habe ich keine feste Stelle mehr gefunden

Ich bilde mich auch ständig weiter. Seit einem Jahr besuche ich eine Ausbildung bei als Mediator in der Erwachsenenbildung. Wir sollen jetzt ein Projekt formulieren, wie wir nach der Ausbildung arbeiten wollen. Es gibt halt fast keine Stellen und alleine ein Projekt zu realisieren ist ziemlich schwierig. Ich hoffe, dass ich gute Partnerschaften für ein Projekt finde. Ich fände es interessant, wenn ich zusammen mit der IGA etwas machen könnte. Mein Projekt wäre eine tamilische Beratungsstelle. Eigentlich ist das dieselbe Arbeit, wie ich sie jetzt schon mache, aber bezahlt. Das wird aber schwierig sein, denn die Tamilen sind es gewohnt, dass sie gratis beraten werden, z.B. von der Freiplatzaktion, aber auch von mir. Wenn ich ihnen nicht mehr gratis helfen würde, gingen sie wahrscheinlich einfach zur Freiplatzaktion oder zur Anlaufstelle für Asylsuchende. Ich habe diese Erfahrung jedenfalls mehr als einmal gemacht, als ich die Leute zur IGA geschickt habe, und sie hätten den Mitgliederbeitrag bezahlen sollen. Als ich eine gute Stelle hatte, konnte ich es mir leisten gratis zu helfen. Jetzt aber arbeite ich als Dolmetscher auf Abruf und davon kann ich meine Familie nicht ernähren.

Helfen hatte in meiner Familie Tradition

Die Leute, denen ich helfe, kommen meistens bei mir zu Hause vorbei, manchmal noch spät abends. Das ist in Sri Lanka so üblich, dass die Leute vorbeikommen ohne sich vorher anzumelden. Und es ist auch üblich, dass diese Leute dann bewirtet werden. Es ist aber nicht eine tamilische Tradition, dass alle Leute einander gratis helfen. Dass ich helfe, wann immer ich kann, habe ich von meinen Eltern gelernt. Mein Vater war Factory Manager wie ich, und seit ich mich erinnern kann, hat er Menschen geholfen, z.B. für sie Briefe verfasst. Und meine Mutter hat jeden Besucher bekocht, ganz egal wie spät es war. Als mein Vater pensioniert war, hat er in unserem Haus eine Englisch-Schule eröffnet. Er unterrichtete Englisch für Fortgeschrittene, und er hat nie Geld dafür verlangt. Wenn die Leute trotzdem Geld gegeben haben, hat er es natürlich nicht abgelehnt, denn brauchen konnte er es schon, er bekam ja keine Rente. Durch das Vorbild meiner Eltern war es für mich selbstverständlich, immer zu helfen, wenn ich es mir leisten konnte. Das war schon in Sri Lanka so. Ich habe in der Hauptstadt gewohnt, und wenn Leute aus der Provinz kamen und sich nicht auskannten, habe ich sie begleitet. Andere Leute haben solche Dienste gegen Bezahlung angeboten.

In Sri Lanka ist es oft schwierig zu unterscheiden, was Hilfe und was ein Geschäft ist. In der Schweiz ist zum vornherein klar, an einem Ort, z.B. bei der Freiplatzaktion, wird mir gratis geholfen, am anderen Ort, z.B. bei der GGG muss ich bezahlen. Und wenn ich bezahlen muss, sind auch die Tarife klar: eine Zeile Übersetzung kostet so und so viel, und der Preis gilt für alle. In Sri Lanka ist das oft alles vermischt, und das gefällt mir nicht. Du weißt nie, ob Du im Preis noch eine Vermittlungsgebühr mitbezahlst, oder ob die Preise steigen, weil einer bereit war, für eine Dienstleistung einen höheren Preis als üblich zu bezahlen. Ich will klar unterscheiden können: wenn ich eine Übersetzung gratis mache, dann ist das echte Hilfe. Wenn ich sie gegen Bezahlung mache, dann ist das eine gegenseitige Unterstützung oder ein Geschäft. Diese Unterscheidung muss für alle klar sein.

Die IGA habe ich über Hans-Georg kennengelernt. Ich war vorher nie in einer Gewerkschaft. D.h. in Sri Lanka war ich schon Mitglied in der Trade Union. Aber die Gewerkschaften dort haben keine wirkliche Bedeutung. Die kaufmännisch Angestellten sind in der Trade Union und die Arbeiter/innen in der Labor Union, und Labor Union und Trade Union hassen sich gegenseitig. Diese Unions wurden noch von den Engländern gegründet. Dabei ging es vor allem um „herrsche und teile“. Bei der IGA habe ich wirklich gute Informationen bekommen, die mir halfen Probleme zu lösen. Obwohl ich gratis für die IGA arbeite, profitiere ich von meinem Engagement. Es ist ein gutes Team hier und ich habe viel gelernt, das mir weitergeholfen hat. Ich denke, dass das Wissen, welches ich hier erwerbe mir auch nützt, wenn ich mein eigenes Projekt aufbauen will. Ich glaube die IGA ist eine Partnerschaft, die in die Zukunft wirken wird.“

Wer darf vom Helfen leben?

Kommentar: Sich mit 40 Jahren eine neue Existenz aufbauen zu müssen, passiert heute immer wieder. Wenn der Neubeginn jedoch durch Flucht verursacht, in einer fremden Kultur und fern von der Familie geschehen muss, ist die Herausforderung sehr gross. Vive war nahe daran, für sich und seine Familie diese Herausforderung in der Schweiz zu schaffen. Dass sein Lohn heute nicht reicht, liegt wahrscheinlich daran, dass Vive sich im entscheidenden Moment zu wenig um seine eigene Karriere und zuviel um Andere gekümmert hat: Vive hat für unsere Gesellschaft, für den so wichtigen interkulturellen Dialog und für die schnellere Integration und Partizipation der Migrationsbevölkerung, wertvolle Arbeit geleistet. Helfen und Vermitteln sind für ihn selbstverständliche Handlungen. Er leistet unentgeltlich Hilfe solange er es sich leisten kann. Solange er es sich leisten kann? Wer ehrenamtlich helfen will, braucht daneben eine gesicherte Existenz. Ist Hilfe ein Privileg der Wohlhabenden?

Vive hat auch geholfen, als seine eigene Situation immer unsicherer wurde. Durch seinen Einsatz hat er gelernt, die Leute wie ein Sozial-Profi zu begleiten. Für regelmässige Weiterbildung hat er ebenfalls gesorgt. Durch seine eigene Lebensgeschichte ist er den Sozial-Profis einige wichtige Erfahrungen voraus. Trotzdem ist es ihm nicht möglich, mit dem was er am besten kann, seine Familie zu ernähren. Gleichzeitig ist das, was Vive am besten kann, auch das was uns allen am meisten nützen würde. Wer hat das Recht, sein Leben mit gesellschaftlich-sozial wichtiger Arbeit zu verdienen? Menschen, die das Leben zu Profis machte? Oder nur Leute, die ein Diplom zu Profis macht?

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